Schattentraeumer - Roman
anzuziehen und ohne Hilfe zu essen. Als sie sich über
den Tisch beugte, um Elpida ihr Fleisch zu schneiden, fühlte Elena, wie die Last der Verantwortung endlich von ihren Schultern
abzufallen begann. Ihre andauernden Bemühungen, Elpida im Haus zu halten, hatten ihr ein Dutzend oder mehr graue Haare beschert,
und sie war am Ende ihrer Kräfte. Natürlich war Praxis erste Maßnahme am nächsten Morgen – nochbevor sie den Anstand hatte, sich anzuziehen –, die Haustür aufzureißen und ihre Tochter freizulassen.
»Warum mache ich mir überhaupt die Mühe?«, murrte Elena, woraufhin Praxi ihrer Mutter einen Kuss gab und beteuerte, dass sie
sich keine Sorgen zu machen brauchte.
»Im Dorf wird ihr nichts passieren«, versicherte Praxi. Dabei wussten sie beide genau, dass Elena aus einem ganz anderen Grund
verhindern wollte, dass ihre Enkelin das Haus verließ.
Beflügelt vom Lachen ihrer Mutter, wirbelte Elpida durch den Garten und kletterte auf den nächsten Apfelbaum, um auf den Ästen
zu schaukeln. Nach all den Wochen, die sie im Haus festgehalten worden war, schien sie sich nun in einem wahren Energierausch
auszutoben. Sie sprang nach den Mandelfrüchten, die an einem Baum am Ende des Weges hingen, und als sie sich umdrehte und
ihre Mutter fröhlich winken sah, sauste sie durch das Gartentor hinaus ins Dorf.
Lächelnd kehrte Praxi zurück ins Haus und entdeckte ihre Mutter auf einem Stuhl neben dem Ofen. Die Missbilligung stand der
alten Dame mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.
Dhespina wischte das Spülbecken aus, dann machte sie sich an den Geschirrschrank und rückte anschließend auf Knien den Spinnweben
unter Pembes kleinem Toilettentisch zu Leibe. Als sie wieder aufstand, fiel ihr Blick auf die Schwarzweißfotos, die einen
Ehrenplatz auf dem Regal einnahmen. Vorsichtig staubte sie die Bilderrahmen ab. Gesichter blickten sie an, fremde und solche,
die sie einst gekannt hatte. Eine sehr alte Aufnahme zeigte einen stolz aussehenden Mann in einem weißen Hemd mit Gürtel und
einer weiten weißen Hose, die in dunklen Lederstiefeln steckte. Auf dem Kopf trug er einen Tarbusch mit dunkler Quaste. War
das Pembes Vater? Oder vielleicht Mehmets? Dhespina fragte sich, was wohl aus ihm geworden war, und verlor sich ganz in Gedanken.
Erst Marios riss sie aus ihren Tagträumen. »Da bin ich«, verkündeteer außer Atem. »Jetzt brauch ich erst mal was zu trinken.«
Seit dem Überfall half Marios, mit dem Segen seines ältesten Bruders Christakis, seinem jüngsten Bruder auf dem Hof.
»Da drüben steht Saft«, erwiderte Dhespina. »Du kannst ja schon mal zu Loukis rübergehen, ich bin hier auch gleich fertig.«
Marios ließ seine Mutter weiterputzen und ging die dreiundfünfzig Schritte – er wusste es genau, weil er sie gezählt hatte
– hinüber zu Loukis’ Haus. Sein Bruder saß auf einem Stuhl und machte sich an seinen Stiefeln zu schaffen. Marios ging in
die Hocke, um ihm beim Schnüren zu helfen.
»Ich muss hier raus«, sagte Loukis. »Sonst ersticke ich.«
»Wo willst du denn hin?«
»Keine Ahnung – irgendwohin.«
»Sollen wir Nicos besuchen gehen?«
Loukis sah das erwartungsfrohe Glänzen in den Augen seines Bruders und konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen.
Sie liefen eine gefühlte Ewigkeit bis zur Kirche, unterwegs mussten sie mehrere Male anhalten, da Loukis jeder Körperteil
schmerzte. Als sie endlich vor dem Grab standen, ließ er sich völlig erschöpft ins Gras sinken. Marios legte ihm seine Tasche
als kleine Stütze in den Rücken und machte sich daran, das Unkraut um Nicos’ Grabstein zu zupfen.
»Kommst du immer noch jeden Tag her?«, fragte Loukis. Er selbst hatte seinen toten Bruder nur wenige Male besucht und schämte
sich nun dafür.
»Ja, jeden Tag«, sagte Marios. »Um zu reden … und das Grab zu pflegen, denn du glaubst nicht, wie schnell dieses Unkraut wächst
…«
»Und worüber redest du mit Nicos?«, wollte Loukis wissen.
»Ich weiß nicht, über alles. Momentan hauptsächlich über dich und die Männer, die dich verprügelt haben. Ich habe Nicos gesagt,
dass wir zur Polizei gehen sollten, aber er hat geantwortet, dass wir uns lieber einen Stock greifen und sie ins nächste Leben
prügeln sollten.«
Loukis lachte und zuckte augenblicklich vor Schmerz zusammen. Die Vorstellung, wie sein hitzköpfiger toter Bruder vor Wut
schnaubte, war irgendwie tröstlich – auch wenn sie nur der Phantasie seines lebenden
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