Schattentraeumer - Roman
Gesicht, als hätte man ihm einen
weiteren Schlag verpasst. Doch Dhespina kümmerte momentan vor allen Dingen sein leibliches Wohl. Seine seelischen Wunden konnten
später versorgt werden.
Als Loukis so weit wiederhergestellt war, dass er sich ohne die Hilfe seiner Eltern anziehen konnte, kam Christakis vorbei,
um mit ihm zu reden.
»Pembe hat gesagt, dass die Angreifer in einem Chevrolet Pick-up gekommen sind«, sagte er zu seinem jüngeren Bruder. Beide
wussten, dass nur eine einzige Person in der Gegend einen solchen Wagen besaß. Christakis wartete auf eine Antwort. Loukis
schwieg.
»Ich werde zu ihm gehen«, sagte Christakis schließlich.
»Um was zu tun?«, fragte Loukis.
»Sein Gesicht zu Brei zu schlagen, was glaubst du?«
Loukis warf einen Blick auf die riesigen Fäuste seines Bruders und musste grinsen. Er hatte sie und ihre Kraft als Kind oft
genug zu spüren bekommen, trotzdem schüttelte er den Kopf. »Es ist nicht dein Kampf.«
»Loukis, greift man einen von uns an, greift man uns alle an!«
»Ich muss nachdenken«, sagte Loukis.
Christakis wollte protestieren, doch sein Bruder schnitt ihm das Wort ab.
»Ich werde dir sagen, wann«, versprach Loukis, »aber nicht jetzt. Ich bin noch nicht so weit.«
Christakis nickte widerwillig. Jeder Muskel, jede Sehne seines Körpers war bereit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten,doch die Entscheidung lag nicht bei ihm. Kurz nachdem er gegangen war, klopften Pembe und Mehmet an die Tür, um mit Loukis
zu Abend zu essen. Sie hatten Eintopf dabei, und betreten stocherten sie während des gemeinsamen Mahls darin herum. Nach dem
Essen vergewisserten sie sich, dass Loukis genug Holz für die Nacht im Haus hatte. Dann drückte ihn Mehmet an sich, und Pembe
küsste ihn vorsichtig auf die Wange.
Später, als der Mond hoch am Himmel stand und die Welt umb sie herum tief und fest schlief, zogen sie die Tür ihres Hauses
zu und trugen zwei bescheidene Koffer zu einem Bedford-Bus, der am Dorfrand auf sie wartete. Beim Einsteigen nickten sie den
anderen Fahrgästen zu. Sie alle waren türkische Zyprer, und niemand sprach ein Wort, denn ihre Blicke sagten alles, was zu
sagen war. Der Fahrer schloss die Tür und fuhr los in Richtung Süden.
Als Dhespina am nächsten Morgen ihren Sohn besuchen ging, wunderte sie sich, wie seltsam ruhig es auf dem Hof war. Die Tür
zu Pembes Haus war zu, jedoch nicht verschlossen. Sie ging hinein, alles dort wirkte wie immer: Das Geschirr war gespült,
die Betten gemacht – und dennoch wurde Dhespina das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wollte Georgios
davon erzählen, doch ihr Mann kam ihr zuvor.
»Hast du Mehmet und Pembe gesehen?«, fragte er besorgt, als sie zu Hause ankam. Sie schüttelte den Kopf.
»Gott steh uns bei!«, erwiderte er, sank auf einem Stuhl zusammen und fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar.
»Sie sind weg, Dhespo. Die Türken sind aus dem Dorf geflohen, jeder Einzelne von ihnen.«
Praxi drückte gegen die Fensterläden, doch nichts rührte sich. Prüfend sah sie sich die Läden an, dann zog sie verwirrt ihre
Augenbrauen hoch.
»Mamma?«, fragte sie. »Hast du etwa die Fensterläden zugenagelt?«
Elena ließ das Bettzeug sinken, das sie gerade aufschüttelte, und ging im Kopf kurz die Erklärungsmöglichkeiten durch. Sie
kam zu dem Schluss, dass keine wirklich plausibel klang.
»Um dich daran zu hindern, hinauszusteigen, und um ihn daran zu hindern, hineinzusteigen.«
Praxi lehnte sich gegen die Wand und rutschte kopfschüttelnd zu Boden. »Du benimmst dich wie eine Verrückte.«
Seit zwei Monaten erholte sich Praxi nun von ihren Beschwerden – den tatsächlichen und den simulierten. Die Undankbarkeit
ihrer Tochter kränkte Elena zutiefst: Tag und Nacht war sie in ihrem eigenen Haus gefangen – festgehalten von einem Kind,
das sich weigerte, gesund zu werden, und belagert von einem Wolf vor der Tür, der sich weigerte, aufzugeben. Sie war mit den
Nerven am Ende. Zu keinem einzigen Kaffeekränzchen hatte sie mehr gehen können, geschweige denn in die Kirche oder zum Einkaufen.
Stattdessen hatte sie jedem, der zufällig vorbeigekommen war, eine Einkaufsliste samt Geld in die Hand gedrückt. Elena bezweifelte,
dass irgendeine andere Mutter derart geduldig sein würde. Nachdem das Fieber endlich gesunken war und der Zauber von Dhespinas
Umschlägen gewirkt hatte, schien Praxi beschlossen zu haben, sich ihrer Genesung einfach zu
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