Schattentraeumer - Roman
brauchen könnte, traf die junge Mandalena ein. Dhespina setzte sie vor die Teekanne, entschuldigte sich, dass sie
sich heute nicht persönlich um ihre Blasenentzündung kümmern könne, und hastete zu Loukis, während Mehmetweiter ins Dorf zur Telefonzelle fuhr, um den Arzt zu rufen.
Dhespina hatte Mühe, den Sohn zu erkennen, der da auf seinem Bett lag, und machte sich mit zugeschnürter Kehle sofort an die
Arbeit. Vorsichtig tastete sie seinen blutverschmierten Kopf und den immer stärker anschwellenden Körper ab: Sie fand vier
dicke Beulen an seinem Schädel, seine Nase und mehrere Rippen waren zweifellos gebrochen, zwei Backenzähne ausgeschlagen,
und er hatte tiefe Schnittwunden an Armen, Oberschenkeln und Brust sowie ein Loch im linken Knie.
»Haben sie auf dich eingestochen?«, fragte sie, während sie einen Topf Wasser auf den Herd stellte.
Loukis versuchte zu antworten, doch die Worte verloren sich in den Trümmern seines Mundes.
»Haben sie auf dich eingestochen?«, wiederholte Dhespina und spürte, wie Wut in ihr aufstieg.
»Baumwurzeln!«, stieß Loukis hervor, schloss die Augen und versuchte erfolglos, die Schmerzen auszublenden.
Als der Arzt eintraf, hatte Dhespina die Wunden ihres Sohnes mit der Hirtentäscheltinktur ausgewaschen, die sie mitgebracht
hatte. Der Arzt schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln und nahm dann seine eigenen Instrumente zur Hand.
»Vier sind gebrochen«, erklärte er, nachdem er Loukis’ Rippen abgetastet hatte. »Die Atmung ist in Ordnung.«
Er bandagierte seinen Brustkorb und besah sich anschließend Loukis’ Gesicht.
»Das könnte jetzt weh tun«, sagte er ruhig, umfasste Loukis’ Nase und rückte sie mit einem abscheulichen Knacken in ihre ursprüngliche
Position zurück. Augenblicklich schossen Loukis Tränen in die Augen, und er stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. In Anbetracht
der Umstände ließ Dhespina es ihm ausnahmsweise durchgehen.
Als der Arzt mit der Untersuchung fertig war, verschrieb er Loukis Schmerzmittel und Ruhe. Die Medikamente waren Dhespina
alles andere als geheuer, doch sie wollte in diesemAugenblick einfach nur, dass jemand oder etwas ihren Sohn schnell von seinen qualvollen Schmerzen befreite.
Nachdem sie dem Arzt das Versprechen abgenommen hatte, am nächsten Tag wiederzukommen, und er gegangen war, bezog Dhespina
das Bett neu. Dann half sie Loukis zurück ins Bett, küsste ihn auf die Stirn und zog die Vorhänge zu. Als ihre Gefühle sie
zu überwältigen drohten, verließ sie schnell das Haus. Draußen warteten Mehmet und Pembe. Das Gesicht der alten Frau war verweint,
Dhespina strich ihr über die Wangen.
»Danke«, sagte sie und musste schlucken.
»Danke nicht uns«, schluchzte Pembe. »Gäbe es uns nicht … Würde Loukis nicht hier bei uns wohnen … wäre …«
Unfähig, weiterzusprechen, sank Pembe an die Brust ihres Mannes.
»Allah, hilf uns«, sprach Mehmet für sie weiter. »Pembe hat recht. Sie hat diese Verbrecher gehört, als sie deinen Jungen
zusammengeschlagen haben. Sie haben ihn einen Verräter genannt, unsretwegen.«
Dhespina schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte energisch den Kopf. »Mein Sohn ist kein Verräter! Und wagt es nicht,
euch die Schuld zu geben – dieses Gesindel, es verrät die Insel. Schlechte Menschen sind das. Was ihr beide heute getan habt
… Mein Gott, Mehmet, Pembe, ihr habt meinem Jungen das Leben gerettet!«
Die beiden Alten wussten Dhespinas Worte zu schätzen, dennoch waren sie überzeugt davon, dass sich der Überfall auf Loukis
ohne sie niemals zugetragen hätte.
Als Georgios eintraf und in das entstellte Gesicht seines Sohnes blickte, bebte er vor Zorn und verlangte, dass die Polizei
gerufen wurde. Loukis gelang es, ihm begreiflich zu machen, dass er das nicht wollte, und auch Dhespina erklärte ihrem Mann
unmissverständlich, dass sie nicht wünschte, dass das ganze Dorf davon erfuhr. Marios brach in Tränen aus, als er seinen kleinen
Bruder so sah, und Christakis versuchte seine Hilflosigkeitzu überspielen, indem er Mehmet und Pembe mit Fragen löcherte.
In den Tagen darauf erholte sich Loukis allmählich, er stieg sogar von Suppe auf weichen Linseneintopf um, weigerte sich jedoch
standhaft, über den Vorfall zu sprechen.
»Wie geht’s Praxi?«, war seine erste klar artikulierte Frage, und Dhespina war der Verzweiflung nahe.
»Ihr geht es gut, sie ist wieder in Keryneia«, log sie. Bei ihren Worten verzog Loukis das
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