Schattentraeumer - Roman
als wäre es Sommer. In den Straßen
am Hafen saßen dicht gedrängt Menschen unter den Sonnenschirmen neu eröffneter Cafés und Restaurants. Alle sahen so glücklich
aus, und Marios war überzeugt, dass es auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort als Keryneia gab.
Zu ihrer Erleichterung stand in der Bank nur ein einziger Kunde am Schalter. Als Loukis an der Reihe war, nahm er ein Geldbündel
aus seiner Tasche und erklärte der Kassiererin, dass er Geld einzahlen wolle.
»Sehr gern, Loukis«, erwiderte die Frau, und Marios fragte sich, woher sein Bruder diese Frau wohl kannte, die nicht aus ihrem
Dorf stammte. Sie beugte sich hinunter und zog ein paar Bogen Papier hervor. »Wenn du bitte diese Formulare ausfüllen würdest,
dann eröffnen wir sofort ein Konto für dich.«
»Ich habe gesagt, dass ich Geld einzahlen will, nicht, dass ich ein Konto eröffnen will«, korrigierte Loukis die Frau, die
daraufhin rot anlief.
»Entschuldigung, natürlich«, sagte sie lächelnd und legte die Formulare zur Seite. »Also noch mal von vorn: Auf wessen Konto
möchtest du Geld einzahlen?«
»Auf das Konto von Mehmet Kadir«, antwortete Loukis.
Der Frau entglitt das Lächeln. »Dem Türken?«
»Ja. Dem Türken.«
Die Frau blickte sich suchend um und rollte mit ihrem Stuhl zu einem Kollegen hinüber, der an einem Schreibtisch saß. Sie
flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der Mann einen neugierigen Blick in Loukis’ Richtung warf. Schließlich nickte er. Mit
einem aufgesetzten Lächeln rollte die Frau zu Loukis zurück.
»In Ordnung«, sagte sie.
Marios verstand nicht ganz, was hier vor sich ging. Warum hatte die Frau erst mit dem Mann sprechen müssen? Als Loukis fertig
war und sie aus der Bank hinaus in die Sonne liefen, konnte er die Blicke der Angestellten im Rücken spüren. Er fragte sich,
ob Loukis eben etwas Merkwürdiges getan hatte und ob er ihrer Mutter davon berichten sollte.
»Vielleicht haben sie Angst, dass wir sie ausrauben«, brummte Loukis.
»Aber wir haben ihnen doch Geld gebracht!«
»Bankmenschen sind paranoid. Außerdem sind sie geizig, deshalb suchen sie sich auch einen Beruf, bei dem sie auf Geld aufpassen
können. Also, warum gehst du nicht los und schaust bei Christakis vorbei?«
»Und was machst du solange?«
»Einen Spaziergang, frische Seeluft schnuppern und dann gehe ich nach Hause. Wir sehen uns dann morgen.«
»Aber Mamma …«
»Marios! Ich weiß, dass du Mamma nur helfen willst, aber jetzt mal im Ernst: Was, bitte, soll mir passieren?«
Genau genommen war Marios der Ansicht, dass Loukis schon etwas passieren konnte, wenn er einfach nur zu Hause saß, doch das
sagte er ihm lieber nicht.
»Wir sehen uns dann morgen«, sagte Loukis noch einmal und lief die nächste Querstraße hinunter.
Unglücklich ging Marios weiter die Hauptstraße entlang, bis ihn die Gewissensbisse plötzlich innehalten ließen. Er wirbelte
herum, rannte zurück zu der Querstraße, doch Loukis war weg. Er rannte weiter und erreichte das Ende der Straße gerade noch
rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Bruder in das Café einbog, das Yiannis und Praxi gehörte.
»Na, dann ist es ja gut«, murmelte Marios und machte sich wieder auf den Weg zur Werkstatt. Er war ganz aufgeregt bei dem
Gedanken, dass er gleich Christakis, Yianoulla und seine vier kleinen Neffen sehen würde – vor allem, weil er sich das Gesicht
des Jüngsten noch einprägen musste. Als er keine drei Minuten später dort ankam, war er überrascht, nicht nur seinen Vater,
sondern auch Michalakis anzutreffen.
»Was machst du denn hier?«, fragte er und umarmte seinen Bruder.
»Na, wenn das keine herzliche Begrüßung ist!«, erwiderte Michalakis und wuschelte seinem jüngeren Bruder durchs Haar.
»Dein Bruder ist gekommen, um mit seinem neuen Auto anzugeben«, klärte ihn Georgios auf.
»Echt? … O Mann, die Stühle sind toll geworden!« Marios trat einen Schritt vor, um sich das Werk von Christakis und seinem
Vater genauer anzusehen.
Georgios strahlte. »Tausendmal interessanter als irgend so eine Blechkiste, nicht wahr?«
»Ihr seid doch alle nur neidisch«, gab Michalakis zurück.
»Hört, hört, da spricht der Hauptstädter!«, spottete Christakis. »Und, Marios, was verschafft uns die Ehre deines Besuchs?«
Marios erklärte, dass er nur mal vorbeischauen wollte, nachdem er eben mit Loukis auf der Bank gewesen war. Christakis’ Gesicht
verfinsterte sich.
»Er würde sich keinen Zacken aus
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