Schattentraeumer - Roman
darüber nachgedacht, dass seine
Mutter ihn belügen könnte, doch nun fragte er sich: Wie oft schon?
»Ich habe Elpida gesehen«, sagte er und ließ seine Worte einen Moment wirken. Der flüchtige Blick, den seine Eltern tauschten,
entging ihm dabei nicht. »Wann ist sie geboren?«
»In dem Sommer, nachdem du weg warst«, antwortete Dhespina.
»Gut«, sagte er ruhig und geduldig. »Wann im Sommer?«
»Acht Monate, nachdem du weg warst, sieben Monate nach Praxis Hochzeit.«
»Und, ist sie von mir?«
»Das nehmen wir an, ja.«
Loukis nickte.
»Danke«, sagte er.
Michalakis machte Frau Germanos ein Kompliment für den vorzüglichen Kaffee, den sie ihm gekocht hatte. Dankend strich ihm
die kleine Frau über den Hinterkopf, dann lief sie, mit den Tränen kämpfend, in die Küche zurück.
Maria hatte sich inzwischen umgezogen und saß ihm gegenüber. Sie war blass, und ihr Blick war leer, trotzdem fand Michalakis
noch immer, dass sie eine außergewöhnlich hübsche Frau war.
»Du hast abgenommen«, bemerkte er.
Maria zupfte an dem Schal, der ihr um die Schultern lag. »Ich habe keinen Hunger«, sagte sie leise. Und das stimmte. Sie musste
würgen, wenn sie nur versuchte, etwas zu essen. Ganz egal, wie wenig sie auf die Gabel nahm, es erschien ihr ein unbezwingbarer
Berg. Und während ihr die Sonne durch das Fenster ins Gesicht schien und Michalakis sie mitleidig ansah, wurde ihr bewusst,
dass sie nicht nur ihren Appetit verloren hatte, sondern auch jegliche Würde. Michalakis’ Blick fiel auf die Narben an ihren
Armen, die sie sich selbst zugefügt hatte.
»Ich weiß«, glaubte sie seine Gedanken zu lesen, »ich habe mich verunstaltet.«
»Das ist unmöglich, Maria
mou
. Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung hatte.«
Überrascht von seinen liebenswürdigen Worten brach mit einem Mal all ihr Schmerz, all die Wut über die Demütigung aus ihr
hervor, die sie in den vergangenen Wochen und Monaten erfahren hatte. Michalakis reichte ihr ein Taschentuch und wartete,
bis der erste Sturm vorübergezogen war. Nach einerWeile – er hatte sich inzwischen neben sie gesetzt und ihr einen Arm um die Schultern gelegt – riskierte er eine erste Frage.
»Ist dein Leben denn so unerträglich geworden, Maria?«
Sie sah ihn an und überlegte, ob und wie sie diese ungeheure Frage beantworten sollte. Plötzlich aber hatte sie das Bedürfnis,
alles loszuwerden, was sie so tief in sich verschlossen hatte, seit Loukis ihr das Herz gebrochen hatte. Sie erzählte von
seiner vernichtenden Zurückweisung, davon, wie er ihre Ergebenheit mit Füßen getreten hatte, und von ihrer Angst, allein zu
sein, als die Zurückgewiesene im Dorf zu gelten, die Frau, die ihr Leben einem Mann zu Füßen gelegt hatte, der sie nicht wollte.
Sie schilderte, wie ihre angeblichen Freunde über sie lachten und wie Mütter Mitgefühl heuchelten, obwohl sie im Grunde nur
dankbar waren, dass es nicht ihre eigenen Töchter waren, die eine solche Schmach erlitten hatten. Sie hasste sich selbst,
verachtete sich für ihre Schwäche und für ihre Dummheit. Sie hatte es zugelassen, zu einer Witzfigur zu werden – sie, das
Mädchen, das jeden Jungen in ganz Zypern hätte haben können. Und sie wünschte – o ja, das tat sie, von ganzem Herzen –, dass
der Tod kommen und sie mit sich reißen würde, um ihr zu ersparen, von der Fäulnis der Erniedrigung innerlich zerfressen zu
werden.
Als sie vollkommen erschöpft und verstört von ihrem eigenen Geständnis verstummte, war Michalakis hin- und hergerissen zwischen
Mitleid, Eifersucht und Begierde. Unbeholfen griff er nach ihrer Hand. Als sie sie nicht zurückzog, fasste er Mut.
»Du solltest weg von hier«, sagte er.
Maria lachte verbittert auf. »Und wohin, bitte?«
»Nach Lefkosia«, erklärte er. »Mit mir.«
Maria sah ihn verdutzt an. Sie konnte kaum glauben, was er da sagte, und Michalakis ging es nicht viel anders, als er sich
seine Worte sagen hörte.
Doch tags darauf stattete er Loukis einen Besuch ab.
Er fand seinen jüngsten Bruder beim Orangenpflücken inMehmets Garten. Aus der Entfernung fiel ihm auf, wie ähnlich sie sich sahen, und für einen Moment irritierte ihn diese Feststellung.
Als Michalakis näher kam, grüßte Loukis ihn unbeschwert.
»Du kommst genau richtig«, sagte er. »Ich könnte ein Bier vertragen.«
»Um diese Uhrzeit? Es ist noch nicht mal zehn.«
»Bruder, das Stadtleben verweichlicht dich.«
»O Mann, jetzt
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