Schattentraeumer - Roman
der Krone brechen, wenn er selbst mal vorbeikäme.«
»Oh, das hat er bestimmt nicht so gemeint«, beeilte sich Marios zu sagen. »Bei der Hitze wollte er wohl lieber was trinken
gehen, denn als wir uns getrennt haben, ist er in Praxis Kaffeehaus gegangen …«
»Er ist – was?!« Sein Vater fuhr hoch.
»Er ist in Praxis Kaffeehaus gegangen«, wiederholte Marios.
»Heilige Mutter Gottes!«, rief Christakis, und Marios machte vor Schreck einen Satz zur Seite. Er hatte keine Ahnung, warum
plötzlich alle so aufgeregt waren. Doch als sein Vater und seine Brüder losliefen, rannte er ihnen natürlich hinterher.
Trotz seines Alters und ihrer langen Beine hielt Georgios recht gut mit seinen Söhnen mit und erreichte das Café nur wenige
Sekunden, nachdem sie hineingestürmt waren. Drinnen stand Loukis mit dem Rücken zur Tür. Er hatte ein abgebrochenes Stuhlbein
in der Hand, vor ihm lag ein Mann am Boden, und zwei weitere standen ihm mit Schlagstöcken und einem Schürhaken bewaffnet
gegenüber. Als Marios, Michalakis, Christakis und Georgios ohne ein Wort neben Loukis in Position gingen, gerieten die Männer
ins Wanken.
Yiannis starrte die menschliche Mauer an, die vor ihm aufragte, und ließ den Schürhaken sinken. Ihm trommelte das Herz in
der Brust, und sein Kopf versuchte zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging: Er hatte Karten gespielt, als die Tür
aufgegangen und Loukis hereingekommen war. Yiannis hatte Victor etwas zugeflüstert, und dann war plötzlich die Hölle losgebrochen.
Zu seiner Rechten versuchte sein Liebhaber gerade verzweifelt, aus der Schusslinie zu kriechen, unddem anderen Offizier stand der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirn. Yiannis war entsetzt, was für ein jämmerliches Bild
sie abgaben.
»Und jetzt«, sagte Loukis langsam, »hätte ich gern ein Bier.«
»Mach fünf draus«, korrigierte Christakis und sah mit einem grimmigen Lächeln zu Loukis hinüber.
Yiannis blickte die beiden Offiziere fragend an, und als sie nicht reagierten, schlurfte er hinüber zur Bar. Die Economidou-Männer
setzten sich draußen an einen Tisch. Sekunden später erschien Yiannis mit zwei Halbliterflaschen Keo und fünf Gläsern. Abschätzig
reichte ihm Georgios die Münzen.
»Geht auf ’s Haus«, murmelte Yiannis verlegen.
»Kommt nicht in Frage«, beharrte Georgios und gab Yiannis zu verstehen, dass er verschwinden sollte.
»Glaubst du, er hat reingespuckt?«, fragte Marios seinen Vater, als er allen einschenkte.
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Michalakis. »Sein Mund ist von der ganzen Pisse in seiner Hose noch viel zu trocken.«
Lachend stießen die Brüder mit ihrem Vater an.
»Und nun erklärst du mir bitte«, begann Georgios und wandte sich dabei an seinen jüngsten Sohn, »was zum Teufel du dir dabei
gedacht hast.«
Loukis nahm sich eine Zigarette aus dem Päckchen, das Michalakis auf den Tisch gelegt hatte.
»Ich bin nicht hergekommen, um mich zu prügeln. Ich habe Praxi gesucht. Ich muss sie etwas fragen. Doch bevor ich überhaupt
was sagen konnte, ist dieser Festland-Idiot auf mich losgegangen.«
»Der auf dem Boden, mit der blutigen Nase?«, wollte Marios wissen.
»Ja.« Loukis begutachtete seine Knöchel, dann schaute er an der Hausfassade hinauf. »Sei’s drum. Wie es scheint, ist Praxi
sowieso nicht da.«
»Das hätte ich dir auch sagen können!«, rief Marios kopfschüttelnd. »Sie ist nach wie vor bei ihrer Mutter im Dorf.«
»Aber Mamma hat doch gesagt …«
Georgios schloss die Augen und stieß einen schweren Seufzer aus. Anschließend hob er sein Glas.
»Lasst uns austrinken und nach Hause gehen, bevor diese Schweinehunde noch Verstärkung holen.«
Loukis saß am Küchentisch und wartete, dass seine Mutter sich zu ihm setzte. Die Atmosphäre war derart gespannt, als hätte
selbst die Zeit die Luft angehalten.
»Ich gehe Nicos besuchen«, erklärte Marios.
»Ich auch«, murmelte Michalakis.
Georgios blickte ihnen geradezu sehnsüchtig hinterher.
»Hast du eine Ahnung, was da los ist?«, fragte Marios seinen Bruder auf dem Weg zur Kirche.
»Genauso wenig wie du«, erwiderte Michalakis.
»Und so was nennt sich Journalist …«
Schweigend knieten sie vor dem Grab nieder. Nach einer Weile erhob sich Michalakis und ließ Marios allein am Grab des Zwillingsbruders
zurück. Er wusste, dass Marios immer irgendein Ritual zum Abschied vollziehen wollte, und machte sich auf den Weg zum Strand.
Er hoffte, dass ihm die frische
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