Schattenturm
die Schüler der fünften Klasse schweifen. Sie saßen über eine Geschichtsarbeit gebeugt.
Duke Rawlins senkte den Kopf, während sein Bleistift übers Papier glitt. Auf Dukes Tisch sah Mrs Genzel die fertigen Seiten liegen, die sich unter dem Druck des Bleistifts gewellt hatten. Als Duke den Blick hob und nachdachte, fragte sich Mrs Genzel, was hinter den blassen Augen des Jungen wohl vor sich ging. Plötzlich beugte Duke sich vor, riss mehrere Seiten aus seinem Heft, zerknüllte sie und warf sie zu Boden. Die anderen Schüler kicherten.
»Ruhe«, sagte Mrs Genzel und wandte sich an Duke. »Was ist mit dir?«, fragte sie.
Er schwieg, die Lippen zusammengepresst, und pochte mit den Fingern der linken Hand auf die Tischplatte.
»Möchtest du noch mal von vorn anfangen?«, fragte Mrs Genzel.
Duke schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und kniff die Augen zusammen. Seine Brust hob und senkte sich. »Nein, Ma’am.«
Die Lehrerin musterte den Jungen. »Kommst du mal mit? Ich möchte draußen mit dir sprechen.«
Duke stand auf und folgte ihr auf den Gang.
Mrs Genzel suchte den Blick des Jungen, doch der senkte den Kopf.
»Bei dir scheint es nicht besonders gut zu laufen«, sagte sie.
»Doch. Alles in Ordnung.«
»Wirklich?«
»Ja, Ma’am.«
»Waren die Fragen zu schwer?«
»Nein«, sagte Duke. »Ich hab nur …«
Plötzlich hob er den Kopf und blickte die Lehrerin an. Mrs Genzel erschrak, als sie die Qual in den Augen des Jungen sah, die aber rasch verflog, als er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog.
»Es ist nichts«, sagte er. »Ich konnte bloß was nicht richtig schreiben und hab mich geärgert.«
Mrs Genzel bemerkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte.
»Also gut«, sagte sie. »Gehen wir wieder rein.«
Das Büro war freundlich und sauber, mit cremefarbenen Wänden, Blumentapeten und leuchtend gelben Stühlen. Auf einer kleinen Pinnwand hingen Kinderzeichnungen. Mrs Genzel saß hinter ihrem Schreibtisch. Ihr kurzes graues Haar war wie das eines Mannes geschnitten und umrahmte ihr weiches, freundliches Gesicht.
»Mrs Rawlins …«, begann die Lehrerin.
»Miss«, sagte Wanda. »Ich bin nicht verheiratet.« Sie saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl und ruckte nervös hin und her. Der Blick der Lehrerin fiel auf den schwarzen Schorf auf Wandas Knien.
»Verstehe«, sagte Mrs Genzel. »Also, Miss Rawlins, ich habe Sie heute herbestellt, um mit Ihnen über Duke zu sprechen …«
»Der Junge bringt mich noch ins Grab«, sagte Wanda.
»Er hat gestern geweint. Er hat gesagt, jemand habe seinen Hund getötet.«
»Sparky«, sagte Wanda und begann sich zu kratzen. Ihre Fingernägel glitten über die Oberschenkel und hinterließen rote Striemen. »Der arme Sparky.«
Mrs Genzel beobachtete sie mit gerunzelter Stirn.
»Stimmt das?«, fragte sie.
»Ja. Als ich am Montag auf den Hof kam, sah ich den kleinen Köter da liegen.«
»Was war denn geschehen?«
Wanda beugte sich vor und kratzte sich weiter. »Keine Ahnung«, sagte sie und lehnte sich wieder zurück.
»Ich weiß, dass Sparky dem Jungen sehr viel bedeutet hat«, sagte Mrs Genzel. »In der dritten Klasse hatte er mal ein Foto mitgebracht. Er hat es allen gezeigt, hat von dem Hund erzählt und Bilder von ihm gemalt. Es muss ihn sehr getroffen haben.«
»Hmmm, ja«, sagte Wanda.
»Können wir von der Schule aus irgendetwas tun, damit Duke den Verlust leichter verschmerzt?«, fragte Mrs Genzel.
»Er wird schon darüber hinwegkommen«, sagte Wanda, quälte sich aus dem Stuhl hoch und reichte der Lehrerin ihre schlaffe Hand.
»Ist bei Duke sonst alles in Ordnung? Zu Hause, meine ich?«, fragte Mrs Genzel.
»Ich bin zwar allein, Werteste«, brummte Wanda, »aber ich kümmere mich um den Jungen.«
»Natürlich, so war es nicht gemeint. Ich habe mir nur Sorgen gemacht …«
Wanda lachte auf. »Ich muss jetzt los«, sagte sie. »Und Sie sollten sich nicht zu viele Sorgen um den kleinen Scheißer machen.«
Mrs Genzel starrte sie an.
Wanda verließ das Büro und schaute auf die Uhr. Sie musste Duke abholen und war spät dran. Vor dem Schultor ging sie auf und ab und zündete sich eine Zigarette an. Schließlich erblickte sie den Jungen, der einsam und allein hinter den anderen Kindern hertrottete. Er kam zu seiner Mutter. Sie zerzauste sein Haar und gab ihm einen Klaps auf die Wange.
»Diese Mrs Genzel ist ein richtiger Drachen«, sagte sie.
»Ich mag sie. Genauso, wie ich Sparky gemocht habe«, murmelte
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