Schattenturm
nicht so lange suchen, um den Killer zu finden«, sagte Richie, als Frank verschwunden war. »Wie war das noch gleich? Neunzig Prozent der Morde werden von Ehegatten oder Freunden verübt …«
Joe schüttelte den Kopf. Er dachte an die Jungen, mit denen er aufgewachsen war und mit denen man nicht reden konnte, weil sie zu blöd gewesen waren.
»Jetzt verschlägt es Ihnen die Sprache, was?«, sagte Richie. »Sie gehen uns so lange mit Ihren dämlichen Theorien auf die Nerven, bis Ihr Sohn in die Sache verwickelt ist. Und plötzlich ist Schweigen im Walde, was?«
Joes Mundwinkel zuckten.
Richie senkte die Stimme, schlug aber einen noch aggressiveren Ton an. »Ich habe nur gesagt, Shaun hat seine Freundin gevögelt. Dann haben sie sich gestritten, sie haut ab, und drei Wochen später finden wir die Leiche des Mädchens. Von alledem hat Shaun nichts gesagt, als wir ihn vernommen haben. Was würden Sie denn davon halten? Würden Sie ihm nicht auch genauestens auf den Zahn fühlen, wenn es Ihr Fall wäre, Detective?«
In der Mitte des Pfades, der zum Haus der Lucchesis führte, verlief ein schmaler Streifen Gras. Vor den Bäumen parkten zwei Lieferwagen; rechts daneben stand Duke Rawlins, versteckt hinter einer Eiche, und schaute auf die Firmenwerbung, mit der die Fahrzeuge beidseitig beschriftet waren: Mark Nash, Rasenpflege. 089 676746.
Duke schloss die Augen und prägte sich die Telefonnummer ein. Plötzlich hörte er, wie sich vom Ende des Pfades ein Fahrzeug näherte, und duckte sich. Ein Jeep fuhr auf das Haus zu. Duke wartete, bis der Wagen vor der Eingangstür hielt. Dann schlich er zwischen den Bäumen zurück.
Frank wollte gerade O’Connor anrufen, als der Detective sich bei ihm meldete.
»Hallo, Frank, hier Myles. Ich habe mir die Aussagen noch einmal angesehen, und ich glaube, ich hab etwas gefunden.«
Frank versuchte, ihn zu unterbrechen, doch O’Connor sprach weiter: »Robert Harrington hat gesagt: ›Ich war ab neunzehn Uhr am Hafen und habe die neuen computergesteuerten Geräte auf einem der Schiffe überprüft, das an dem Tag im Hafen festgemacht hatte. Ich habe Katie und Shaun auf dem Fußweg gesehen. Sie haben sich geküsst und umarmt.‹ Diese Aussage wird von vier Fischern bestätigt. Aber später sagt Robert, dass Katie und Shaun ›unten am Dock des Rettungsbootes gewesen sein müssen‹. Er hat nicht gesagt, dass sie dort ›waren‹, sondern dass sie dort ›gewesen sein müssen‹. Kevin Raftery und Finn Banks haben Katie und Shaun überhaupt nicht gesehen. Sie haben sich um halb neun Uhr mit Robert getroffen. Also haben sämtliche Zeugen Katie und Shaun vor zwanzig Uhr an diesem Abend gesehen. Und Robert Harrington, der die engste Beziehung zu dem vermissten Mädchen und ihrem Freund hat, will uns glauben machen, dass sie ganz in der Nähe waren, aber er hat nicht ausgesagt, dass er sie wirklich gesehen hat.«
»Sie haben vollkommen Recht«, sagte Frank.
Anna saß im Keller auf einem kleinen Fass, mit dem Rücken an der kalten Steinwand, und starrte auf die Weinflaschen in den Regalen. Als ein Lichtstrahl in den Keller fiel, hob sie den Blick und sah eine Gestalt in der Tür. Joe kam die Stufen hinunter und streckte die Hand aus. In der Dunkelheit konnte er Anna nur schemenhaft erkennen. Sie ergriff seine Hand, drückte sie auf ihr Gesicht und brach in Tränen aus. Joe zog Anna vom Fass hoch, schloss sie in die Arme und amtete erleichtert durch. Es war für beide eine Qual gewesen, einander seit Tagen nicht zu berühren. Joe hatte Magenkrämpfe, Kopfschmerzen von den Medikamenten und trockene Augen.
»Sag etwas«, sagte Anna.
Joe rührte sich nicht und mied ihren Blick.
»Bitte, Joe.«
»Wahrscheinlich bin ich sauer, weil ich glaubte, alles wäre perfekt«, sagte er.
»War es ja auch«, sagte Anna. »Ist es immer noch. Es ist viele Jahre her …«
»Ich weiß«, sagte er. »Aber als ich mir den Burschen angesehen habe, sah ich einen fetten, betrunkenen Loser, und ich dachte: Das ist mein Konkurrent? Dieser Typ hat deine Frau gehabt?«
»Du hast keine Konkurrenten. Es war dumm, was ich getan habe. Ich habe es immer gewusst, aber ich liebe dich …«
»Du hättest es mir sagen müssen.«
»Du hättest mich verlassen.«
Joe legte die Hände auf ihre Arme und schaute ihr in die Augen.
»Ja, das hätte ich getan. Vielleicht war es gut, dass du mir nichts gesagt hast.« Er lächelte traurig. »In den letzten Tagen habe ich viel darüber nachgedacht, obwohl ich im Augenblick
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