Schattenturm
beiden allein.
»Ich habe etwas übersehen«, sagte Joe und schaute auf die Uhr. »Es ist genau einen Monat her, seit Katie ermordet wurde. Ich gehe die Strecke noch einmal ab. Vielleicht fällt mir etwas ein, woran ich beim ersten Mal nicht gedacht habe.«
»Wenn du meinst«, sagte Anna. »Aber vorher muss ich dir etwas sagen, weil es für die Ermittlungen wichtig sein könnte. Ich habe mit John Miller gesprochen …«
Die Hände in den Taschen vergraben und den Kopf gesenkt, ging Frank am Hafen entlang. Das peinliche Gespräch, das er vorhin mit O’Connor geführt hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn. Obwohl er die Lucchesis nicht für Katies Tod verantwortlich machen konnte, stieg Zorn auf die Familie in ihm auf. Das Leben in diesem ehemals friedlichen Dorf hatte sich dramatisch verändert, seit die Lucchesis hier wohnten. Früher hatte Frank ein unbeschwertes Leben in Mountcannon geführt; jetzt hätte er die Zeit gern zurückgedreht. Er sehnte sich nach den Tagen zurück, als er wegen eines gestohlenen Wagens ermittelt hatte, weil es das Schlimmste war, das in Mountcannon geschehen konnte.
Das Leben im Dorf hatte im letzten Monat mehr Risse bekommen als in seiner ganzen Geschichte zuvor. Nachbarn stritten sich darüber, wer wen verdächtigte, schimpften auf die Polizei und waren verängstigt und hilflos. Familien gerieten in Streit, weil jemand den Hintereingang nicht verschlossen hatte, obwohl seit sechzig Jahren niemand im Dorf die Türen abschloss. Nur eines verband die Menschen noch: der verzweifelte Wunsch, den Killer zu fassen.
Frank war nicht überrascht, dass O’Connor allmählich die Nerven verlor.
Über seine eigene Lage nachzudenken, hatte Frank keine Lust. Es brach ihm fast das Herz, dass diese Tragödie einen Schatten auf sein letztes Dienstjahr warf. Der Sergeant hoffte auf eine Aufklärung des Falles, bevor er in den Ruhestand trat. Er setzte sich auf eine morsche Bank am Ufer, schloss die Augen und betete.
Joe folgte dem Weg, den Katie in der Nacht ihrer Ermordung gegangen sein musste, und fragte sich, ob er auch den Spuren des Killers folgte. Irgendwo auf dieser Straße hatte Katie gestanden, mutterseelenallein. Es war totenstill. Joe hörte sein Atmen, roch den Vinylgeruch seiner Jacke, hörte das Plätschern der seichten Wogen, vernahm sogar seine leisen Schritte.
Auch Katie hätte Schritte hören müssen. Erst recht ein Auto. Aber vielleicht war alles viel zu schnell gegangen … ein Wagen bremste … eine Tür wurde aufgerissen … ein Mann saß am Steuer, ein anderer stieß Katie in den Wagen und warf die Tür zu … und dann fielen die Kerle über sie her …
Oder es könnte jemand gewesen sein, jemand, den Katie kannte, dem sie vertraut hatte, jemand, der sie nach Hause gebracht oder neben ihr gehalten und ihr angeboten hatte, sie heimzufahren.
Doch alle diese Theorien überzeugten Joe nicht.
Er blieb stehen, als er einen Wagen sah, der auf der rechten Straßenseite parkte. Richie Bates saß am Steuer; er hatte das Autoradio laut aufgedreht.
Joe klopfte an die Beifahrertür. Richie zuckte zusammen und ließ das Seitenfenster herunter.
»Was tun Sie denn hier?«, fragte Joe.
»Sie haben vielleicht Nerven«, erwiderte Richie. »Ich ermittle.«
Joe schnaubte verächtlich. »Ich habe gehört, die Ermittlungen werden von einem Detective aus Waterford geführt.«
»Sie können mich mal kreuzweise«, sagte Richie.
»Ermitteln Sie in Ihrer Freizeit?«, fragte Joe mit Blick auf Richies Jeans und Pullover.
»Geben Sie eigentlich nie Ruhe?«, entgegnete Richie schroff. »Sie gehen mir gewaltig auf den Keks.«
Er ließ den Motor an. Als er zurücksetzte, fuhr er Joe fast über den Haufen.
O’Connors Blicke waren auf die Teetasse und das Hefeteilchen vor ihm gerichtet. Er rollte den Bürostuhl ein Stück zurück und öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches. Dort lag ein weißes Feuerzeug mit dem grün-gelben Logo eines Lebensmittelkonzerns. O’Connor hatte es am Morgen nach einer Wohltätigkeitsveranstaltung in seiner Tasche gefunden. Als er das Feuerzeug aus der Schublade nehmen wollte, klingelte das Telefon. Er drückte auf den Lautsprecher.
»Anruf für Sie, Sir, auf Leitung eins.«
»Danke.« O’Connor schloss die Schublade und hob ab.
»Spreche ich mit Detective O’Connor?«, fragte eine Männerstimme. »Hier ist Alan Brophy, Kriminaltechnik. Wir haben herausgefunden, dass die Splitter in Katie Lawsons Schädel von einer Schnecke stammen.«
»Was?«
»Die
Weitere Kostenlose Bücher