Schattenwanderer
Verzweifelt zog ich am Ring, doch die Tür gab nicht nach. Schlösser entdeckte ich keine, insofern halfen mir meine Nachschlüssel auch nicht das Geringste. Das verdammte Gespenst, noch durch die Mauern des Turms vor mir verborgen, würde sicher bald wieder in meinem Blickfeld auftauchen und den wahnsinnigen Beschuss fortsetzen. Ich zog erneut an der Tür, trat dagegen und fluchte wütend. Die Zeit zerrann mir zwischen den Fingern. Kurz blickte ich zu den Sternen hinauf. Nur die Krone des Nordens und das Sommerliche Blumengebinde standen noch am Himmel, die anderen Sterne waren bereits verblasst und kaum mehr zu erkennen. Der Mond wurde mit jeder Minute fahler, und das Licht, das den runden Platz beleuchtete, streute und wurde weißlich.
Keine zwanzig Minuten mehr, dann wäre der Morgen da. Dann wäre alles aus. Wenn kein Wunder geschähe, würde ich das Geschlossene Viertel nie mehr verlassen. Falls mich nicht vorher noch dieses wahnsinnige Gespenst umbrachte. Das Murmeln des Magiers klang unterdessen sehr nah.
Sollte ich mich im Turm verstecken? Vielleicht konnte ich ja sogar bis morgen Nacht in ihm warten? Ich klammerte mich an diesen dünnen Strohhalm der Hoffnung und spannte meine Muskeln verzweifelt an, um die verfluchte Tür wenigstens einen Spaltbreit zu öffnen. Vergebens. Ich würde nicht in den Turm kommen. Ich wollte schon zu den Häusern hinüberlaufen, als Walders Stimme in meinem Kopf ertönte: Öffne dich, ich bin’s!
Die Tür glitt zur Seite und hieß mich freundlich ins Dunkel des toten Gebäudes eintreten.
»Daaaa bist du!« Erklang es triumphierend direkt an meinem Ohr. Mit einem Satz rettete ich mich in den Turm. Die Tür schloss sich sofort hinter mir und sperrte mich damit in völlige Finsternis. Schon in der nächsten Sekunde donnerte mit einem wahnsinnigen Knall die magische Kugel gegen die Tür. Das dreiste Gespenst wollte einfach keine Ruhe geben.
Keine Sorge!, beruhigte mich Walder. Es wird der Tür keinen Schaden zufügen, sie ist nämlich gegen solche Wesen gefeit. Und sie lässt nur ihre eigenen Leute hinein und bloß auf Befehl der Erzmagier. Dieses Gespenst wird nicht eindringen.
Wer ist das? , fragte ich, während ich an meinem Gürtel nach einem »Feuer« tastete.
Ich weiß es nicht, ich kenne es nicht.
Kann ich hier drinnen eigentlich den Tag abwarten? Ist es im Turm ungefährlich?
Leider nein, mein Freund. In diesem Teil der Stadt gibt es keinen sicheren Ort. Tut mir leid.
»Bei Sagoth!« Damit blieben mir nur noch zwanzig Minuten in dieser Welt.
Ich musste etwas tun. Ich musste mich mit etwas beschäftigen, sonst würde ich vor Verzweiflung gleich losheulen. Mit geschlossenen Augen flüsterte ich den Zauberspruch, der das »Feuer« entfachte. Ich hielt es vor mich und schaute in dem Raum umher, den ich bereits aus meinem Traum kannte. Alles war unverändert. Gut, vielleicht waren die Mauern etwas verrußt und auf dem Boden lag das einbeinige Skelett eines Menschen. Die Knochen des anderen Beins entdeckte ich in der Nähe.
Mein alter Freund , flüsterte Walder schmerzlich.
Sein Freund? Ach ja, dieser Erzmagier. Wie hieß er doch gleich? Ilai? Nein. Ilio! Neben seinem Skelett lag die verbrannte Leiche eines Kindes … Nein, eines Gholen. Alles war ganz genau so wie in meinem Traum. Aber mir fehlte die Zeit, mich eingehend umzusehen, um die zehn Unterschiede zu finden. Ich musste in den ersten Stock hinauf, dorthin, wo Arziwus zufolge das Archiv lag. Ich musste mir die Pläne von Hrad Spine schnappen – und dann nichts wie weg von hier. Mir war wieder einmal eine völlig verrückte Idee gekommen. In meinem Kopf kicherte Walder leise. Offenbar billigte er den Plan.
Ich raste die schwarze Marmortreppe hoch, die sich wie eine Riesenschlange um die schwarze Mittelsäule wand. Das Licht des »Feuers« riss die Fresken aus der Dunkelheit, die Szenen aus der Geschichte des Ordens darstellten. Der erste Stock. Da war auch schon die Tür zu dem Gang, in dem das Archiv lag. Unwillkürlich hob ich den Kopf. Im zweiten Stock riss die Wendeltreppe ab. Der fast schon morgendliche Himmel lugte in den Turm hinein.
Hinter der Tür zeigte mir das »Feuer« auf dem Boden des Ganges vermoderte Teppiche aus dem Sultanat, meisterlich geschnitzte Möbel, Wandteppiche und keine einzige Tür.
Vorwärts! Das Archiv kommt noch!
Ich rannte weiter, die Wände flogen an mir vorbei, doch die ersehnte Tür tauchte nicht auf. Der Gang schien endlos, offenbar hatten die Magier des Ordens den Raum
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