Schattenwanderer
worden, hatte die Zahl der Betrunkenen, die es nicht mehr nach Hause schafften und direkt auf der Straße nächtigten, enorm zugenommen. Im Viertel der Handwerker war man freilich seit dreihundert Jahren eine ganz andere Nachbarschaft gewöhnt.
»Das Böse lebt zwar gleich vor unserer Haustür, sitzt aber hinter der Mauer und tut niemandem etwas zuleide. Zu uns traut es sich nicht vor, kurz und gut, es stört uns nicht. Unsere Großväter lebten damit, unsere Väter lebten damit – jetzt leben wir damit. Und auch für unsere Enkel und Urenkel wird es nicht anders sein!«
So dachte nahezu jeder Bewohner hier.
Wenn man diesen Dummköpfen zuhörte, traute man seinen Ohren kaum! Es war, als säßen sie bei schönstem Sonnenschein auf einem Pulverfass mit brennender Lunte und hofften auf Regen. Gewiss, dieses Geschwür, dieses mysteriöse Verbotene Viertel, beseitigte niemand. Doch die Augen zu schließen und zu hoffen, die Götter retteten uns – das ging doch auch nicht! Das wäre, als wollte …
Meine Güte! Müde, wie ich war, fing ich schon mit philosophischen Selbstgesprächen an.
Kaum hatte ich das Viertel der Handwerker hinter mir gelassen, da begegneten mir weniger Menschen. Ab und zu warf mir jemand einen befremdeten Blick zu. Offenbar forderte mein Aufzug dazu heraus. Verwunderlich war das nicht. Mein Gesicht war dreckiger als das eines Trolls, der in der Erde gewühlt hatte, an meinem Kinn klebte Blut, über meine Jacke schienen wildgewordene Märzkatzen hergefallen zu sein. Dazu noch die Klinge am Schenkel und die merkwürdige Armbrust auf dem Rücken, die Tasche, die Folianten, die finstere Miene und der mürrische Blick. Kurz und gut, hier kam eine Gestalt, vor der man sich besser in Acht nahm. Oder wegen der man die Wache rief.
Immerhin hielt mir meine nicht gerade fröhliche Miene Neugierige vom Leib, sodass ich den Tempelplatz unbehelligt erreichte. Nicht einmal einem Mann Lontons lief ich in die Arme.
Am Tor der Tempelanlage empfingen mich die beiden Priester, die ich bereits kannte. Fast konnte man meinen, die beiden Alten hätten ihren Posten nicht verlassen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Beide betrachteten mich mit nicht gerade freundlichem Blick, aber gut, schließlich mussten sie auch einer ungeheuer verantwortungsvollen Aufgabe nachgehen: Sie hatten wie Papageien immer wieder denselben Satz herauszubringen.
»Kämpfst du mit dem Dunkel in dir?«
Eben! Papageien!
»Ich vernichte das Dunkel!«, antwortete ich müde.
»Dann tritt ein und wende dich an die Götter!«
»Das werde ich auf der Stelle tun«, brummte ich, während ich auf die Wohnanlage der Priester Sagoths zuhielt. »Vor allem zu dem Gott, der für dämliche Ratschläge eine ganze Goldmünze nimmt.«
Der Springbrunnen mit dem Ritter und dem Oger sprudelte nach wie vor lustig vor sich hin. Um die Statuen der Götter wuselten die Priester. Das morgendliche Aufräumen, bevor die Besucher eintrafen. Einer der Priester rieb mit einem Lappen das Gesicht Sagras ab, ein anderer legte der liebreizenden Silna Blumen zu Füßen. Niemand achtete auf mich, was ich aber keineswegs übel nahm.
Da der Bogengang keine sonderlich angenehmen Erinnerungen in mir heraufbeschwor, blieb ich kurz stehen, machte dann aber doch einen Schritt hinein. Nichts geschah. Kein noch so kluger Dämon hatte die Absicht, mich zu packen und mir das Mark aus den Knochen zu saugen. Seltsam. Ob ihm etwas zugestoßen war? Ich schlenderte von einer Seite zur anderen und wartete darauf, endlich gepackt zu werden. Vergeblich. Das Dunkel sei mit diesem Wuchjazz! Ich spuckte aus und eilte zu den Gemächern Fors!
Die Priester, die gerade jene Fackeln löschten, die die Nacht über gebrannt hatten, beachteten mich nicht. Offenbar waren diese Diener Sagoths von For über mein Kommen in Kenntnis gesetzt worden. Ich öffnete die Tür zum Heim meines Lehrers und trat ein. For hatte sich augenscheinlich überhaupt nicht schlafen gelegt, sondern während der ganzen Zeit, in der ich weg war, am Tisch gesessen. Darauf fand sich inzwischen kein Krümelchen Essen mehr. Eine weitere Merkwürdigkeit. Sollte sich For etwa um mich gesorgt haben?
»Da bist du also wieder«, murmelte er gedankenverloren, als er mich sah. Offenbar wollte er sich seine Freude nicht anmerken lassen. Mir machte er jedoch nichts vor. »Hattest du Erfolg?«
Schweigend stellte ich die Tasche mit den Schriftrollen und die Bücher auf den Tisch.
»Oho!«, rief er entzückt. »Das hätte ich
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