Schattenwanderer
Luft hing feuchter Staub. Es war früher Morgen, dicke milchweiße Nebelwolken quollen von der Erde auf. Auf der anderen Seite der Schlucht verschwand der Weg nach dreihundert Yard hinter einer dicken Nebelwand. Man konnte nur ahnen, wie weit die Feinde noch entfernt waren. Gestern hatten die Späher berichtet, dass die Vorhut der Orks einen Tagesmarsch von ihnen entfernt sei.
Der Boden der Schlucht ließ sich nicht erkennen, auch er lag unter dem allgegenwärtigen Nebel verborgen. Doch Hargan bezweifelte nicht, dass die Schlucht tief war. Von irgendwo weit unten ließ sich hin und wieder das Rauschen eines Baches vernehmen.
Die Wände der Schlucht waren zwar nicht senkrecht, jedoch konnte man sie keineswegs als einen sanften Abhang bezeichnen. Sah man sich beim Abstieg nicht vor, konnte man sich durchaus das Genick brechen. Hätten sie also erst einmal die Brücke beseitigt, würden die Orks eine glitschige Lehmwand hinunterkraxeln müssen, um dann auf der anderen Seite eine ebenso rutschige Wand zu erklimmen. Nur so konnten sie zu den Menschen vorstoßen – und die würden sie mit einem beständigen Pfeilhagel empfangen.
»Hargan!« Ein alter Veteran im schwarzen Kettenhemd wandte sich an den Kommandanten: »Die Bäume reichen aber nicht für eine anständige Palisade. Vielleicht sollten wir noch mal hundert Mann losschicken, die den Wald auf unserer Seite fällen? Das sind nur Birken, die verlangen geradezu nach unseren Beilen.«
»Dann mach dich an die Arbeit, Fuchs«, erwiderte Hargan.
Fuchs war genauso alt wie Hargan. Jetzt grinste er unfroh in seinen Bart und machte sich davon, den Befehl weiterzuleiten.
Auch Fuchs machte sich keine Illusionen, den Kampf zu überleben. Die Orks ließen niemanden am Leben. Überhaupt glaubte keiner von ihnen, dieses Zusammentreffen zu überleben. Alle wussten, worauf sie sich eingelassen hatten, als in der Armee Freiwillige – genauer gesagt: Todeswillige – gesucht wurden.
Wir alle sind schon tot, dachte Hargan mit einem unerklärlichen Schmerz. Wir sind wandelnde Leichname. Ich, Fuchs, Vettel, die Zauberin, die es sich in den Kopf gesetzt hat, die Heldin zu spielen, und noch dreihundert Männer, die freiwillig aus dem Leben gehen wollen, damit die anderen etwas länger leben als sie.
Der Regen ging mit neuer Kraft nieder, trommelte sanft auf die Erde, beruhigte und wiegte die müden Soldaten, pflanzte eine trügerische Gewissheit und die Ruhe der endlosen Stille in ihre Seelen.
»Erledigt«, sagte Vettel, als der letzte Baumstamm über die Brücke auf diese Seite der Schlucht gezogen worden war.
Obwohl sie viele Bäume gefällt hatten, reichte es nicht für eine solide Palisade. Hargan hoffte, die Leute von Fuchs würden mehr Baumaterial liefern.
»Reißt jetzt die Brücke ein!«
»Das wird schwer werden, Kommandant.« Vettel rieb sich die Nasenwurzel. »Das ist nämlich gute Arbeit, die werden wir nicht so einfach abtragen! Dafür brauchen wir bestimmt zwei Tage!«
»Die haben wir aber nicht.«
»Das ist mir auch klar! Ob wir sie abfackeln können?«
»Nein, schließlich regnet es schon seit drei Tagen. Die Balken sind durch und durch nass. Wie willst du die in Brand stecken? Ruf unsere Zauberin, wir wollen mal sehen, wozu das Mädchen in der Lage ist.«
Vettel schnaubte laut. Er hatte bereits zum wiederholten Mal seine Ansicht darüber geäußert, was von so jungen Frauen zu erwarten sei. Aber Hargan hatte ihm geraten, diese besser für sich zu behalten, falls Vettel sein Leben nicht als Spatz beenden wolle – nachdem Lady Siena ein paar Passes ausgeführt hatte.
Die Zauberin war noch nicht einmal achtzehn Jahre alt. Ein rundes sommersprossiges Gesicht mit Stupsnase und großem kindlichen Mund, kurze rotblonde Haare und blaue Augen. Hargan fragte sich noch immer, wie er sich hatte dazu bereitfinden können, eine derart junge Zauberin in seine Einheit aufzunehmen. Sie war zu jung, um gut zaubern und den erfahrenen Schamanen der Orks in einem magischen Duell etwas entgegensetzen zu können. Ein weiterer überflüssiger Tod.
Wenn er schon einen Magier dabeihaben musste, hätte er lieber einen alten mit Bart gewollt! Doch kein erfahrener Magier hatte sich ihnen anschließen wollen, alle waren mit der Armee abgezogen, denn sie würden bei der letzten Schlacht gebraucht werden. Hargan hatte sich mit der besten Schülerin eines der Erzmagier aus dem Orden begnügen müssen.
»Ihr habt mich rufen lassen?« Hinter seinem Rücken erklang eine
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