Schattenwanderer
Tag wurde noch düsterer. Der Regen wollte nicht enden, er versuchte den durchweichten Soldaten zu beweisen, dass es sich nicht lohne, hierzubleiben und auf den eintreffenden Feind zu warten.
Die Soldaten froren, waren müde und bis auf die Knochen durchnässt. Die Bogenschützen sahen grimmig zum Himmel hinauf – die Nässe schadete den Bögen, und keine Elfenschläue half, die Sehnen bei einem solchen Hundewetter zu schützen.
»Vettel!«, rief Hargan leise und wischte sich mit der Hand über das nasse Gesicht.
»Ja.« Auf diesen Ruf hin war der Anführer der Schwertkämpfer herbeigeeilt.
»Nimm deine Jungs, schnappt euch alle Beile, die ihr finden könnt, und fällt die Bäume auf der anderen Seite der Schlucht.«
»Zu Befehl«, sagte Vettel. »Sofort?«
Der zugespitzte Helm war zu groß und fiel Vettel vor die Augen, doch ihm machte, soweit Hargan wusste, dergleichen nichts aus.
»Ja. Und zerlegt die Brücke! Wir wollen den Ersten doch einen fröhlichen Empfang bereiten!«
Vettel grinste und entblößte dabei die wenigen Zähne, salutierte und lief los, um die schlafenden Soldaten zu wecken.
Hargan seufzte. Bei allen Göttern! Wie nahe ihm das alles ging. Er war alt, zählte fast sechzig Jahre, mochte er auch nur wie knapp fünfzig aussehen. Er fürchtete den Tod nicht. Aber diejenigen, die er zu kommandieren vom Schicksal bestimmt worden war … Kinder waren das. Kinder von zwanzig, dreißig Jahren. Er hielt sie alle für zu jung, um hier zu sterben, an dieser Brücke, die über die tiefe, namenlose Schlucht führte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten nur Veteranen den Feind empfangen, nur diejenigen, die nichts mehr zu verlieren hatten in diesem Leben, diejenigen, die kein Haus hatten, in das sie zurückkehren konnten, diejenigen, die in den Freunden und Soldaten ihre Familien gefunden hatten.
Die Regentropfen huschten wie flinke Echsen über Hargans Haar und Gesicht. An diesem Tag im späten August schien die ganze Welt angesichts dieses Krieges, der auf der Erde stattfand, zu weinen.
Die Orks waren völlig überraschend über sie hergefallen. Deshalb hatte Vagliostriens Armee anfangs entsetzlich viele Soldaten verloren. Es war geschehen, was nie hätte geschehen dürfen – sie hatten Schlacht um Schlacht verloren: die Schlacht an der Isselina, deren schwarzes Wasser in den nächsten Jahrhunderten Blut und Leichen beider Seiten mit sich führen würde. Die brennenden Mauern Rannengs, Dutzende kleiner Kämpfe und Hunderte von Zusammenstößen entlang der Front.
Nun war ihre letzte Hoffnung, das Königreich zu retten, die Schlacht, zu der es schon bald vor Awendum kommen sollte. Weder Hargan noch seine Männer würden an ihr teilnehmen …
Der alte Soldat zweifelte in keiner Weise daran, dass er und seine Leute ihre letzte Ruhestätte hier in dieser aufgeweichten Erde finden würden. Sie hatten nur eine Aufgabe: den Feind so lange wie möglich aufzuhalten.
Die Ersten ließen sich Zeit. Was spielte es für eine Rolle, wann das Blut der Menschen fließen würde? Eine Stunde früher, eine Stunde später? Sie waren die Ersten, und sie würden über alle Lande herrschen, wohingegen die Menschen … die Menschen würden ohnehin die Würmer füttern. Erst in Vagliostrien, später in Miranuäch, dann kämen Gnome und Zwerge an die Reihe, und schließlich würden sich die Orks ihre Verwandten vornehmen, die Elfen, die sie so abgrundtief hassten.
»Hargan!« Ein junger Soldat, ein Grünschnabel noch, trat an den Kommandanten heran, der neben der Brücke stand. »Es sind noch zwei Wagen mit Pfeilen eingetroffen.«
»Wunderbar!« Hargan nickte, während er beobachtete, wie seine Leute über die Brücke zu dem kleinen Wald hinüberrannten. »Verteilt sie an die Bogenschützen! Und schick mir fünfzig Mann her, wir müssen die Verteidigungsanlage aufbauen!«
»Werden fünfzig reichen?«
»Die anderen sollen sich schonen. Du solltest auch etwas Kraft schöpfen, Klao!«
Die Beile verrichteten ihr Werk, es war keine halbe Stunde vergangen, da waren alle Bäume gefällt, und die Soldaten schafften die bereits entasteten Stämme heran, trugen sie, zogen sie an Seilen auf die andere Seite hinüber, wo ihre Kameraden lagerten.
»Vettel!«, schrie Hargan. »Lass die Pferde von den Wagen abspannen! Sie sollen uns helfen. Warum wollt ihr euch so abrackern?«
»Wird erledigt!«, schrie der kahle Soldat von der Brücke herüber.
Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, jetzt nieselte es nur noch, und in der
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