Schattenwanderer
der Versammlung auf das Symbol seines Rangs verzichten zu müssen. Das würde dem Geflüster hinter seinem Rücken, über den Bengel, der die Tradition des ruhmreichen Ordens von Vagliostrien nicht achtete, neue Nahrung geben.
»Weil mich sonst die Stadtwache aufgehalten hätte!« Gani schniefte. »Die sind doch zu allem fähig. Und einen Jungen, der mit dem Stab eines Erzmagiers herumrennt, hätten sie sich mit Sicherheit vorgenommen.«
»Wohl wahr, das sähe unserer Stadtwache ähnlich.« Walder wickelte den Stab aus dem Stoff. »Danke, Gani, du hast mir sehr geholfen.«
»Wirklich?« Der Junge strahlte über beide Ohren.
»Wirklich.«
»Kann ich mit Euch mitkommen, Meister Walder?«
»Leider nein. Diese Zusammenkunft ist nur für Erzmagier bestimmt. Mach deine Jacke lieber zu, sonst erkältest du dich. Und geh nach Hause, es wird schon dunkel. Du findest den Weg zurück?«
»Ja«, antwortete der Junge, der seine Jacke rasch zuknöpfte. »Müsst Ihr dort hin?« Gani deutete mit einer Kopfbewegung zum Turm des Ordens, der über sämtliche Häuserdächer ragte. Die schnurgerade Straße der Magier, in der, wollte man ehrlich sein, im Laufe der Jahre kein einziger Magier gelebt hatte, führte zu einem runden kleinen Platz, auf dem der Turm stand.
»Ganz genau.«
»Dann werde ich also mal wieder nach Hause gehen.« Der Junge schniefte wieder.
»Tu das. Und noch was: Wiederhole die Seite 48, während ich weg bin.«
»Die in dem blauen Buch?«
»Genau die.«
Gani konnte nicht lesen, verfügte aber über ein phänomenales Gedächtnis. Alles, was Walder ihm einmal vorgelesen hatte, vermochte er buchstabengetreu zu wiederholen, obgleich er häufig nicht einmal verstand, wovon die Rede war. Als Walder ihm die Seite 48 vorgelesen hatte, wollte er ein Experiment machen.
»Versuch, alles zu begreifen!«
»Nur zu begreifen?«, fragte der Junge spitzfindig zurück.
»Nur zu begreifen. Lass es dir ja nicht einfallen, etwas davon auszuprobieren, bis ich wieder zurück bin. Hast du mich verstanden?«
»Ja«, antwortete Gani.
»Also dann: Geh!«
Ohne eine Erwiderung seines Schülers abzuwarten, setzte Walder mit weit ausgreifenden Schritten und auf seinen Stab gestützt den Weg durch die Straße der Magier zum Turm des Ordens fort. Innerlich musste er grinsen. Er hatte Gani die Aufgabe gegeben, die »Flügel des Nordwindes« auswendig zu lernen, einen Zauberspruch, den sonst nur Gesellen übten, und auch das erst im fünften Jahr ihrer Ausbildung.
Unterdessen eilten die Bewohner der umliegenden Häuser heim, um sich ein Plätzchen nahe den Feuerstellen zu suchen. Nach und nach versank die Straße der Magier in den langen Schlaf einer Winternacht. Durch den grauen Himmel brach das leuchtend blaue Licht des Steins, jenes hellsten Sterns in der Krone des Nordens.
Stundenlang hätte Walder die Sterne betrachten können. Sie beruhigten ihn und ließen die Welt weit schöner und reiner erscheinen, als sie eigentlich war.
Von irgendwoher wehte ein kalter Wind heran und versuchte, seine Finger unter Walders Kleidung zu schieben. Mithilfe eines Zaubers schuf der Erzmagier einen undurchdringlichen Schild zwischen sich und dem Wind.
Walder warf einen Blick auf den vertrauten Turm am Ende der Straße. Der Rat würde ihn bald verlassen, um in den neuen Turm zu ziehen, der im Viertel der Magier gebaut wurde. Er würde größer und beeindruckender sein als der alte, und die Magier Awendums bräuchten von ihren Wohnstätten aus nur fünf Minuten, um zu ihm zu gelangen. Was dann aus dem alten Turm wurde, wusste der Orden noch nicht. Die einen schlugen vor, ihn dem Rat der Stadt zu überlassen, die anderen wollten ihn in einen Speicher verwandeln, die Dritten verlangten, ihn bis auf die Grundmauern abzutragen.
Der Wind frischte immer stärker auf, scheuchte den Schnee hoch, der auf dem Pflaster schlief, und wirbelte ihn in einem wütenden weißen Tanz in der Luft herum. Die abzweigenden Straßen waren wegen des Schneesturms schon gar nicht mehr zu erkennen. Dergleichen kam in Awendum, der nördlichsten Hauptstadt in Siala, häufig vor. Mal ruht still die See, mal stürmt es, fällt Schnee .
Walder indes bekümmerte das aufziehende weiße Treiben nicht, der magische Schild schützte ihn gut. Der Erzmagier stellte sich vor die bronzene Tür des Turms, die sich von selbst öffnete und damit das Recht des Magiers bestätigte, das Allerheiligste des Ordens betreten zu dürfen.
Sobald Walder eingetreten war, schloss sich die Tür
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