Schattenwanderer
jenes Kinderlied zu summen, das ihm dereinst seine Mutter vorgesungen hatte.
»Ich bin’s, Lehrer, wacht auf!« Durch den Dämmer des nahenden Todes vernahm Walder ein Weinen.
Mit großer Mühe schlug er die bleischweren Lider auf und sah über sich das tränenbenetzte Gesicht Ganis.
»W-was … tust du hier?«, presste der Erzmagier mit brechender Stimme heraus.
»Ich habe auf Euch gewartet, und dann fing es an!« Der Junge war verängstigt.
»Ja … es fing an.« Eine weitere Schmerzwelle schwappte über Walder hinweg. Er biss die Zähne aufeinander, um nicht aufzuschreien. »Da, nimm das! Es ist das Horn. Bring es weg, los! Zu Arzis. Rasch! Vielleicht kann er dem noch Einhalt gebieten.«
»Ich lasse Euch nicht allein!«
»Geh! Das ist mein letzter Befehl, Lehrling! Finde Arzis, gib ihm das Horn! Sag ihm, dass ich ihn bitte, dich als Lehrling aufzunehmen. S-sag … Sag, dass etwas schiefgegangen ist. Sag, dass wir etwas geweckt haben, das sich nicht begreifen lässt. Einen Sturm.«
Mit zitternden Händen übergab der Erzmagier dem Jungen das Horn und sank in den Schnee zurück. »Lauf, sonst ist es zu spät! Rette, was noch zu retten ist!«
Gani zögerte, nickte dann und rannte die nächtliche Straße hinunter, das Horn fest an sich gepresst.
»Lauf, mein Junge, lauf!«, hauchte Walder.
Schnee. Sich sanft drehend, so fiel der Schnee auf den toten Erzmagier, bedeckte ihn mit dem weißen Tuch der Wärme und der Ruhe. Der Schnee raunte leise und sang sein Lied, wohl wissend, dass schon bald ein irrwitziger Tanz losbrechen würde.
Denn über Awendum braute sich ein schwarzer Sturm zusammen.
Kapitel 11
Das Reich der grauen Träume
Gegen eine schmutziggraue, rissige Hauswand in der Straße der Menschen gelehnt, stöhnte ich auf. In meinem Brustkasten hatte sich ein Schmerz eingenistet. Ich massierte die Stelle mit der Hand. Nach und nach wich der Schmerz und nahm die Figuren meines schrecklichen Traums mit sich. Immer noch weilte ich in Gedanken dort, in der Straße der Schlafenden Katze, unter einem Schneeteppich liegend neben der Statue Sagoths. Immer noch wollte ich nicht glauben, dass ich am Leben war und nicht tot auf dem verschneiten Pflaster des alten Awendums lag.
»Ich bin nur Garrett, Garrett, der in Awendum als Garrett der Schatten bekannt ist, ich bin nicht der Erzmagier Walder, der doch schon vor ein paar Jahrhunderten starb«, flüsterte ich.
Das fragile Gespinst der Traumrealität war jählings in einer gewaltigen Welle über mich hinweggebrandet. Ich war schnellen Schrittes durch die Straße der Menschen gegangen, als mich wie ein herabstürzender Stern die Erscheinung heimgesucht hatte. Ich war ich – und zugleich Walder. Mein Bewusstsein hatte sich geteilt, verdoppelt, war aufgesplittert wie die zarte Kruste jungen Eises im November. Ohnmächtig gegen die Wand gekauert, hatte der Dieb Garrett ein neues Leben durchlebt, genauer den Bruchteil eines fremden Lebens, das erstaunlich real gewesen war. Ich weiß nicht, wie viel Zeit unterdessen vergangen war, doch selbst jetzt noch, da ich aufgewacht war und mich aus dem Spinnweb der Albträume befreit hatte, spürte ich den stumpfen Schmerz in der Brust, der von dem Schamanenzauber herrührte, noch jetzt brannte auf meinem Gesicht die Kälte des Januarschnees.
Oder war es gar kein Traum gewesen? Hatte mich vielleicht etwas oder jemand absichtlich in diese Tragödie eingeweiht, die sich hier vor dreihundert Jahren zugetragen hatte?
Immerhin wusste ich von nun an, was es heißt zu sterben. Und ich wusste, was in dieser schrecklichen Januarnacht im alten Turm des Ordens wirklich geschehen und wie das Geschlossene Viertel, inzwischen bereits eine Legende, entstanden war.
Schuld an dem Unglück war also einmal mehr dieser geheimnisvolle Herr gewesen, der Semmel mit Macht und Unsterblichkeit in Versuchung geführt hatte. Der Herr. Was war das für einer? In der vergangenen Woche hatte ich wiederholt von ihm sprechen gehört. Eine geheimnisvolle Persönlichkeit, ein großes Rätsel, das nicht nur mir, sondern auch Arziwus – und damit letztlich dem gesamten Orden – Schwierigkeiten bereitete. Dieser Herr und der Unaussprechliche waren zwei grundverschiedene Figuren, das zumindest stand außer Frage. Dazu gestalteten sich die Beziehungen Semmels und der Dämonen zum Herrn einerseits und zum Unaussprechlichen andererseits zu unterschiedlich. Aber die Dämonen waren mysteriöse Geschöpfe, und über Semmels Existenz war mir nichts bekannt als
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