Schattenwanderer
erstarrte, huschte zur gegenüberliegenden Straßenseite, verschmolz mit dem Schatten und lauschte. In dem Haus, aus dem das Weinen drang, waren die Fenster zu ebener Erde mit Brettern vernagelt, das Geräusch kam aus dem ersten Stock. Ich wartete. Mein Herz hämmerte so wild wie ein freiheitsliebender Vogel, der aus dem engen Käfig entlassen werden wollte. Ich wartete, lauschte und fürchtete, dieses Kinderweinen erneut zu hören, diesen verzweifelten Schrei eines hungrigen Kleinkindes, das von seiner Mutter dem Schicksal überlassen worden war, dieses Weinen, für das es an diesem toten und schrecklichen Ort keinen Platz gab. Alles blieb ruhig. Trotzdem wartete ich noch ein paar Minuten, ehe ich meinen Weg fortsetzte. Unablässig sah ich mich um, denn ich scheute mich zu glauben, was ich gehört hatte. Mich erfasste immer größere Angst, was als Nächstes kommen mochte.
Ich achtete darauf, mich weder in der Mitte der mondbeschienenen Straße noch dicht an den Wänden der toten Häuser zu halten. Die Häuser weckten eine kindliche Furcht in mir, wie sie mich schweigend mit ihren glaslosen Fensteraugen beobachteten, mich von allen Seiten gramerfüllt verfolgten. Ich spürte, dass diese Häuser tot waren. Aber gleichzeitig behielten sie mich im Auge. In einem fort rieselten mir Schauder über die Haut, ausgelöst von diesen stechenden Blicken.
Inzwischen konnten mir der König, Hrad Spine und die Karte gestohlen bleiben – ich wollte nur noch weg aus diesem Viertel, aus der Stadt. Was mich von Flucht abhielt, war einzig und allein die Angst, den Kontrakt zu brechen. Rechter Hand, hinter den Häusern, verlief parallel zur Straße der Menschen die Friedhofsstraße, was meine Zuversicht nicht gerade förderte. Immer fester rechnete ich mit einer bösen Überraschung – die es allerdings nicht sonderlich eilig hatte, ins Mondlicht herauszukriechen, um den armen Garrett zu verschlingen.
Schließlich entdeckte ich das Haus des Richters. Keine Ahnung, ob in diesem Haus wirklich einmal ein Richter gelebt hatte oder ob das Haus seine Bezeichnung dem puren Zufall verdankte, aber in den Karten hieß das graue zweistöckige Haus genau so.
Möglich war es durchaus, dass der protzige Bau einem Richter gehört hatte, vor allem wenn man berücksichtigte, welche Bestechungsgelder die königlichen Richter damals einstrichen. Inzwischen war das aber anders. Stalkon hatte ein paar korrupte Richter abgesetzt, einige in die Grauen Steine geschickt – und die übelsten aufs Schafott. Seitdem arbeiteten die Richter wie ein komplizierter Mechanismus der Zwerge: schnell, genau und vor allem zuverlässig.
Hinter besagtem Haus sollte eine schmale Gasse zur Straße der Schlafenden Katze führen. Genau wie die Friedhofsstraße verlief sie parallel zur Straße der Menschen, allerdings links von dieser. Im Prinzip hätte ich auf der Straße der Menschen bleiben und durch die breite Hafergasse in die Straße der Schlafenden Katze gelangen können, aber dieser Weg wäre ziemlich lang gewesen, und das Verbotene Viertel ist nicht der Ort, der zu langen nächtlichen Wanderungen einlädt. Je eher man es wieder verlässt, desto besser für die eigene Gesundheit. Insofern war mir jede kleine Gasse, die meinen Weg abkürzte, willkommen.
»H’san’kor soll mich fressen!«, machte ich meinem Kummer Luft: Das Gebäude neben dem Haus des Richters war eingestürzt, der Schutt versperrte mir diese Abkürzung in die Straße der Schlafenden Katze. Und leider war ich kein Steinbock, der über all diese Steinhaufen hinweg seinen Weg gefunden hätte. Sogar Wuchjazz würde sich hier die Beine brechen. Also der lange Weg! Mein Blick fiel auf die Wände der finsteren Häuser, die durch die Nacht schimmerten. Wie weit war es bis zur Hafergasse? Wie oft musste ich mit dem Schicksal noch Würfel spielen, jedes Mal riskierend, sonstwem in die Arme zu laufen?
In der Straße war niemand. Und trotzdem … Ja, schon gut! In mir brannte nicht gerade der Wunsch, die Straße der Menschen weiter hinunterzugehen! Und das würde ich auch nicht tun! Meine Intuition riet mir davon ab. Wie aber kam ich dann zur Schlafenden Katze? Die einzige andere Möglichkeit war die, durch eines der finsteren Häuser zu meiner Linken zu gehen. In dem Fall konnte ich gleich das nächstbeste nehmen, also das Haus des Richters.
Im tiefen Schatten stehend, versuchte ich, mir darüber klar zu werden, welches das geringere Übel sei: weiter die Straße der Menschen hinunterzugehen oder die
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