Schattenwanderer
Nase in eines der toten Häuser zu stecken. Keine dieser beiden Varianten entzückte mich.
Im Haus gegenüber erklang jenes leise Weinen eines Kindes, das ich schon einmal gehört hatte. Ich erschauderte und hielt nach der Quelle des Weinens Ausschau. Es kam wieder aus dem ersten Stock, wahrscheinlich aus jenem schwarzen Fenster mit den vermoderten Lumpen, die früher einmal Gardinen gewesen waren. Wenn ich mir beim ersten Mal noch hatte einbilden dürfen, meine Fantasie habe mir einen Streich gespielt, dann konnte ich mir jetzt nichts mehr vormachen: Ich hörte das Weinen wirklich. Und diese Entdeckung erfüllte mich nicht gerade mit Genugtuung. Weinten da Gespenster? Die Seelen der Toten? War das ein Fluch, gewirkt vom Horn des Regenbogens? Oder etwas anderes? Keine Ahnung. Aber ganz bestimmt würde ich auf dieses Kinderweinen nicht hereinfallen! Ich würde niemanden retten, so wie irgendein dämlicher Ritter – nur um dann als Nachtmahl für eine hungrige Kreatur zu enden.
Ich schnallte meine Armbrust ab und wechselte den normalen Bolzen gegen einen Feuerbolzen aus. Dieser unterschied sich von einem Kampfbolzen einzig durch einen roten Streifen und die Spitze, die in der Dunkelheit mit dem matten Licht des eingezauberten Feuers glimmte. Doch sobald er in sein Ziel einschlagen würde, würde sich die zerstörerische Magie des Feuers freisetzen. Damit fühlte ich mich schon sicherer.
Nach nur wenigen Sekunden – sie reichten, damit sich mein Herz irgendwo in den Gedärmen verirrte – verstummte das klägliche Weinen genauso unverhofft, wie es entstanden war. Eine sekundenkurze Stille … dann hörte ich ein leises Kichern. Das gemeine Lachen eines Kindes. So lacht ein Kind, wenn es eine Katze quält und genau weiß, dass es ungestraft davonkommt.
Kalter Schweiß überzog meinen Rücken, und zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich aus voller Kehle vor Angst schreien. Noch nie hatte mich etwas dermaßen in Panik versetzt. Die Zombies in Ols Stollen und selbst meine beiden Dämonenbrüder nahmen sich gegen dieses leise, grundböse Lachen eines unsichtbaren Geschöpfes wie gutmütige Welpen aus.
Das Unbekannte jagt einem stets einen Schrecken ein. Deshalb wollte ich Land gewinnen, denn dieses Lachen lud wahrlich nicht zu einer netten Plauderei mit seinem mysteriösen Besitzer ein. Inzwischen war ich mir sicher, dass dieser Unbekannte Jagd auf den armen Garrett machte. Warum sonst verfolgte mich dies Lachen?
Kaum dass ich das Kichern aus dem Erdgeschoss vernahm, scheuchte ich jedes Zaudern davon. Wie ein grauer Wirbelwind fegte ich die Stufen der Vortreppe des richterlichen Hauses hoch und tauchte in die abgestandene Finsternis ein. Der winzige purpurrote Lichtkreis, der von der Spitze des magischen Bolzens ausging, ließ mich gerade so viel erkennen, dass ich gegen nichts stieß und die alte, verzogene Tür fand, die ins Innere des Hauses führte. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, eines der »Feuer« herauszuholen, eine jener magischen Lichtquellen, die ich beim alten Honhel erstanden hatte. Das Lachen erklang bereits auf der Straße.
Ein anderer an meiner Stelle hätte gewiss einen Feuerbolzen auf diesen kichernden Quäker abgeschossen, aber dafür war ich zu vorsichtig. Das hatte For mir beigebracht. Besser, nie voreilig handeln. Wer wusste denn, ob die Feuermagie nicht die gleiche Wirkung auf das lachende Monster hatte wie der Geruch frischen Menschenbluts auf einen Oger?
Ich riss die Tür aus I’aljalaweide auf, einem Holz, dem die Zeit bekanntlich nichts anhaben konnte, flog in den dunklen Raum, dessen Wände sich in abgrundtiefer Dunkelheit auflösten, schloss die Tür hinter mir wieder und hetzte weiter, wobei ich beinahe gegen ramponierte Möbel gestoßen wäre, die überall im Weg standen.
Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte ich auf dem Boden ein Skelett in vermoderter Kleidung. Eine andere Tür brachte mich in den nächsten Raum. Dergestalt ging es weiter und weiter. Ich schwirrte durch die verlassenen Zimmer, die Finsternis mit dem trüben Licht des Feuerbolzens durchschneidend. Das Blut pulste in meinen Schläfen, in meinem Bauch ballte sich ein kalter Eisklumpen der Angst, der sich hartnäckig weigerte zu schmelzen. Ich flehte Sagoth an, dass ich mir in dieser Dunkelheit nicht ein Bein brach.
Und so behielt ich meinen Versuch, mich zu verstecken, in Erinnerung: ein Geflirr von Wänden, darauf riesige Schatten, ein Spiel von Licht und Dunkel, der zitternde rote Kreis vom Licht des Bolzens.
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