Schattenwanderer
die polierte Tischoberfläche. Ein Stuhl mit einer geschnitzten Lehne, ein stilisiertes Spinnennetz, dies konnte nur das Werk der Zwerge sein, auch wenn sie Holz nicht sonderlich gern bearbeiten. Ein paar Bilder. Leider vermochte ich nicht zu erkennen, was auf ihnen dargestellt war, denn im Laufe der Jahre war die Leinwand nachgedunkelt, jetzt ließen sich nur noch einzelne Striche ausmachen. Kleinere Regale mit eingestaubten Büchern. Vermutlich befand ich mich im Arbeitszimmer des Richters. Er selbst lag neben dem Tisch auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Ein altes, unter Spinnweben und Staub verborgenes Skelett. Vorsichtig trat ich heran und beugte mich darüber. Die Beinknochen waren angenagt, als habe jemand versucht, bis zum süßen Mark vorzudringen. Gholen?
Das ist unwahrscheinlich. Die Abdrücke der Zähne stimmen nicht.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Was für Abdrücke von Zähnen? Was fabulierte ich da zusammen? Von solchen Sachen verstand ich doch reinweg gar nichts! Die Worte schienen von jemand anderem zu stammen. Von jemandem, der sich sehr gut mit den Gewohnheiten dieser Geschöpfe auskannte. Beispielsweise von demjenigen, der ich vorhin im Traum gewesen war. Der Erzmagier Walder. Aber das war doch Unfug! Das glaubte ich ja selbst nicht! Mein Kopf war mein Kopf – in ihm konnte es nicht die Worte eines toten Magiers geben!
Hastig trat ich von dem Toten weg, der mich zu diesen mir gänzlich unverständlichen Vermutungen bewogen hatte, und schaute zum Fenster hinaus.
Und hätte fast wie ein Kind aufgeschrien. Ich hatte mich zu früh gefreut, viel zu früh. Die Merkwürdigkeiten im Verbotenen Viertel hatten längst noch kein Ende.
Da draußen herrschte tiefe Winternacht. Die Häuser gegenüber waren mit Schnee bedeckt. Genau wie die Straße. An manchen Stellen hatten sich sogar gewaltige Schneewehen aufgetürmt. Was war das nun wieder? Vor zehn Minuten war doch da draußen noch Sommer gewesen – und jetzt das! Richtiger Winter! Juchzend liefen ein paar Jungen die Straßen hinunter und hätten beinahe einen dicken Mann umgerissen, der in einen altmodischen Pelz gehüllt war. Durch die Straße wuselten Menschen flink durcheinander. In den Häusern gegenüber brannten Lichter, die Gebäude selbst wirkten in keiner Weise heruntergekommen. Gerade brach die Nacht herein.
Die letzte Nacht , flüsterte die Stimme des Erzmagiers Walder in meinem Kopf. Die Nacht, in der ich gestorben bin.
Entsetzt fuhr ich zusammen, fluchte auf all die Wunder und hätte beinahe die Tür eingeschlagen, als ich aus dem Raum stürzte.
Der Tisch mitten im Zimmer, die Vase mit den vertrockneten Stängeln, die einst Blumen gewesen waren, Bilder, Bücher, der Stuhl, das Skelett auf dem Boden. Das Fenster. Winter. Menschen, die vor dreihundert Jahren gelebt hatten und nicht ahnten, was sich binnen weniger Stunden in ihrer Welt zutragen würde. Ich fand mich in dem Zimmer mit der Aussicht auf die winterliche Straße wieder. Was war das? Eine neuerliche Teufelei des Verbotenen Viertels? Ich ging hinaus, schloss die Tür aber nicht hinter mir.
Der Tisch, die Vase, die Blumen, der Tote, das Fenster, der Winter. Ich schaute zurück in das Zimmer, aus dem ich gerade gekommen war: Der Tisch, die Vase, die Blumen, Bücher, das Skelett mit den angenagten Knochen und der weiße, sanft zu Boden rieselnde Schnee. Ich war gefangen. In einem geschlossenen Kreis.
Noch rund zwanzig Mal ging ich durch die Tür, gelangte aber mit unerbittlicher Regelmäßigkeit stets nur ins selbe Zimmer. Um das Vergnügen zu vollenden, fehlte eigentlich nur noch der lachende Quäker!
Eine Jagd durch ein und dasselbe Zimmer, das sich tausendfach in der Realität widerspiegelt . Erneut diese leise müde Stimme.
»Wer bist du?«, flüsterte ich ängstlich und wusste, in mich hineinlauschend, bereits die Antwort.
Ich weiß es nicht , vernahm ich kurz darauf. Ich bin ich. Ich lebe dank dir. Nicht einmal mein ganzes Ich, sondern nur ein Teil davon.
»Du bist in meinem Kopf!«, schrie ich.
Keine Angst, ich verschwinde, sobald du dieses magisch verfluchte Viertel verlässt. So lange erlaube mir jedoch, ein wenig zu leben, bat die Stimme.
Kurz war ich versucht, der Bitte nachzugeben, dann gewann jedoch meine Vernunft die Oberhand. »Nein! Hau ab aus meinem Kopf!«
Du kennst mich, du warst ich, als all das geschah. Du weißt, dass ich dir kein Leid zufüge, sondern dir helfe.
O nein! Hilfe von jemandem, der sich – noch dazu ohne meine Erlaubnis –
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