Schattenwanderer
Meister hatte sich gewaltig ins Zeug gelegt. Der Gott der Diebe saß auf einem granitenen Hocker, die lederbeschuhten Beine übereinandergeschlagen. Sagoth blickte etwas müde, wie ein Wandersmann nach einem langen, aber letztlich angenehmen Marsch. Die Hände mit den feingliedrigen Fingern ruhten auf seinen Knien. Ich besah mir sein Gesicht. Das gewöhnliche Gesicht eines vierzigjährigen Mannes. Eine scharfe Nase, eine hohe Stirn. Der Bildhauer hatte es sogar verstanden, dem Gott einen Dreitagebart zu geben. Verschmitzte Augen und ein Lächeln, das die Weisheit eines Greises mit dem Übermut eines frechen Jungen verband. Ich kannte den Mann. Zumindest hatte ich ihn schon gesehen. Ja, ich hatte ihm sogar schon eine Goldmünze für einen dummen und wertlosen Rat gezahlt. Vor mir saß nämlich jener Bettler, der in der Tempelanlage auf dem leeren Sockel gehockt hatte.
Wundern tat mich das nicht. Ich hatte bereits einige Legenden und Mythen darüber gehört, dass Sagoth es liebe, zuweilen über die Erde zu wandeln und mit denjenigen zu plaudern, die sich in schweren Augenblicken an ihn wenden. Ihnen zu helfen, zu raten, sie zu strafen und sie zum Narren zu halten.
»Wie du siehst, erfülle ich den Kontrakt«, teilte ich der Statue laut mit. »Nur deinen dämlichen Rat bezüglich Selena, den verstehe ich nicht. Also freu dich! Du hast mich um eine Goldmünze erleichtert!«
Der Gott schwieg jedoch, sah mich mit spöttischem Blick an. Was sollte er auch auf die Worte eines Kerls namens Garrett antworten? Ich seufzte. Gut, Sagoth hatte mich vor der Irilla gerettet, aber ich musste weiter, denn bis zur Straße der Magier war es noch ein gewaltiges Stück.
»Wie hat es der sterbende Walder wohl geschafft, die Strecke vom Turm des Ordens bis zur Statue Sagoths zu bewältigen?«, murmelte ich.
Aber die Stimme, die in meinem Kopf nistete, antwortete mir nicht.
Als mir einfiel, dass der Magier ja neben der Statue gestorben war, sah ich mich um. Ich konnte keine Knochen entdecken. Gut, Sagoth sei mit ihm! Wenn er irgendwann aus meinem Kopf genauso spurlos verschwände, umso besser.
»Leb wohl, Sagoth!« Ich zügelte meinen Hochmut und verbeugte mich. Immerhin hatte ich einen Gott vor mir. »Ich hole das Horn. Ungeachtet deines unverständlichen Rats.«
Schweigend wandte ich mich um und ging die in nächtlicher Finsternis liegende Straße der Schlafenden Katze hinunter, den Gott der Diebe hinter mir lassend. In der Nähe der Statue hatte ich auf einmal eine zauberische Gewissheit und Ruhe empfunden. Die Gewissheit, den Kontrakt zu erfüllen, koste es, was es wolle. Mich dünkte, mein Gott billige mein Vorgehen, selbst wenn er kein Wort zu mir gesprochen hatte.
Die Straße war so endlos wie der Hass der Elfen auf die Orks. Geschlagene zwanzig Minuten lief ich sie bereits hinunter, doch bis zur Straße der Magier blieb immer noch ein gutes Stück. Wie lange musste ich mich danach wohl noch durch diese Welt toter Verzweiflung schleifen? Dabei hätte ich sie gern so schnell wie möglich verlassen. Denn meine Intuition sagte mir, mir stünden noch mehr Schwierigkeiten bevor.
Plötzlich nahm ich einen Geruch wahr, der mit nichts zu verwechseln war. Er vermag einen hungrigen Gholen zu verzücken und gleichzeitig in den Wahnsinn zu treiben. Der Geruch von Leichen. Das süßliche Aroma des Todes und der Verwesung. Ich atmete durch den Mund weiter und versuchte, nicht auf den unerträglichen Gestank zu achten. Außerdem rief ich mir in Erinnerung, dass es aus dem Mund von Wuchjazz und seines Bruders noch viel schlimmer roch.
Ein paar Sekunden später hörte ich, wie jemand Fleisch in Stücke riss. Es folgte ein Knirschen und Schmatzen. Schließlich erklang jener Ton, den alle kennen, die alte Gräber schänden: das schwere Röcheln aus halbverfaulten Lungen. An ebendiesem Röcheln erkennt man die verfluchten Kreaturen immer. Ich wusste genau, wer diese Töne hervorbrachte. Zombies. Tote, die vom schwarzen Schamanismus der Oger, der selbst nach tausend Jahren nicht aus Siala verschwunden war, wiederbelebt worden waren. Untote, die an unterschiedlichen, meist verödeten und zum Glück selten von Menschen aufgesuchten Orten erschienen. Nicht einmal die mächtigen Magier des Ordens und der lichten Elfen oder die Schamanen der Orks, der Kobolde und der dunklen Elfen wussten das zu verhindern. Zu stark war der Schamanismus der geheimnisvollen Oger, der sich seit jener Zeit in der Welt hielt, als sich diese Geschöpfe noch nicht in
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