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Schattenwanderer

Schattenwanderer

Titel: Schattenwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexey Pehov
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gerichtet, nicht von einem der Dächer zu rutschen.
    Hoch. Runter. Sprung. Landung. Hoch. Runter. Sprung. Landung. Wieder hoch! Routine! Ich bewegte mich wie ein Mechanismus der Zwerge: klar, präzise, ohne unnötigen Kräfteverschleiß. Ich sprang über die Dächer, in der Gewissheit, mir könne nichts mehr passieren.
    Diese Gewissheit sollte mir noch das Genick brechen. Nach einer Landung auf einem der Dächer schöpfte ich Atem und betrachtete besorgt die Sterne. Das sah nicht gut aus. Am Ende würde der Unaussprechliche doch noch zu seinem Janga mit mir kommen!
    Und dann geschah es. Unter meinen Füßen gab mit schmerzlichem Knarren – so knarren alte Türen in Häusern, die seit Langem verlassen sind – das Dach nach. Es krachte einfach unter mir weg. Ich fuchtelte mit den Armen, versuchte, das Gleichgewicht zu halten, um nicht aus dem zweiten Stock auf das Pflaster zu knallen, und gleichzeitig möglichst weit weg von dem Riss zu springen. Das misslang. Das Dach stürzte in die Tiefe – und ich folgte ihm. Flirrende Wände, aufgewühlter Staub, der Sternenhimmel.
    Dunkelheit.

Kapitel 12

    Im Dunkeln
    Ich blieb nicht lange bewusstlos. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich in den Himmel. Die Sterne hatten sich kaum verschoben, auch der Mond leuchtete noch hell, nicht morgendlich trüb. Stöhnend versuchte ich mich aufzusetzen. Das glückte. Wie sich zeigte, hatte ich mir nichts gebrochen, was mich über die Maßen freute. Wenn ich mir ein Bein oder – da sei Sagoth vor – die Wirbelsäule gebrochen hätte, läge ich jetzt reglos auf dem Boden und würde die Morgendämmerung erwarten.
    Ich war nicht sehr tief gefallen. Wenn ich aufstünde, den Arm ausstreckte und spränge, könnte ich mit den Fingern die Decke berühren. Offenbar war ich in einem Zimmer direkt unterm Dach. Der Boden hatte mich ausgehalten, genau wie einen Teil des eingestürzten Daches, auf dessen Bruchstücken ich gelandet war. Ich erhob mich und bewegte vorsichtig die Hände, immer noch ungläubig, unversehrt geblieben zu sein. Ich musste hier raus, dieses Kinderweinen wirkte sich verheerend auf meine zerrütteten Nerven aus.
    Halt! Welches Weinen?!
    Kurz schien mich ein gigantischer Nagel am Fleck festzuhalten, während ich fieberhaft überlegte: Warum beschäftigte mich dieses Kinderweinen? Da war doch etwas gewesen … am Rande meines Bewusstseins, als ich in die Tiefe gefallen war. Etwas hatte mich geweckt, aus der Ohnmacht gerissen. Ein Weinen. Dieses Weinen eines Kindes, das mir inzwischen nur allzu bekannt war.
    Gleichsam als Antwort erklang aus der dunklen Ecke des Raums ein leises Schluchzen und bestätigte damit alle Gesetze der universellen Schweinerei sowie meine persönlichen Ängste. Übernervös riss ich ein »Feuer« vom Gürtel, warf es auf den Boden und ratterte den Spruch herunter, mit dem es entfacht wurde. Die Explosion leuchtete das dunkle Zimmer grell aus, ich schloss die Augen, um durch das gleißende Licht nicht zu erblinden. Eine Sekunde, die mich eine Ewigkeit dünkte – dann durfte ich die Lider getrost wieder öffnen, ohne mit bunten Kreisen vor den Augen rechnen zu müssen.
    Das kalte magische Licht ging von einem kleinen Stock aus, dem »Feuer«, das den Raum hundertfach stärker beleuchtete als eine gewöhnliche Fackel. Ein alter Raum mit Wänden, von denen die Farbe blätterte, einem abgenutzten Bretterboden, der fast gänzlich mit Müll bedeckt war. Meine Armbrust erstrahlte am Boden in einem grellroten Lichtkreis, den der Feuerbolzen verursachte. In der hinteren Ecke saß ein kleines Mädchen und sah mich mit grünen Augen aufmerksam an.
    Ein gewöhnliches Mädchen, ein Menschenkind von vielleicht fünf oder sechs Jahren. Lockiges Goldhaar, rosige Pausbacken, auf denen Tränenspuren schimmerten, ein schmutziges, zerrissenes Kleid, nackte Füße und ein abgegriffenes Plüschtier, ein Hündchen oder ein Bär, in der Hand. Ein bezauberndes kleines Kind, wie geschaffen für Fresken in einem Tempel. Nur dass in den grünen Augen die Gier einer Schlange loderte, der Hass eines Wolfes und der Hunger eines Ogers.
    Neben dem Kind lag der Handschuh, den ich im Haus des Richters weggeworfen hatte. Das Mädchen schluchzte, ohne den Blick von mir zu lösen. Ganz langsam und meinerseits die Kleine nicht aus den Augen lassend, bückte ich mich, um meine Armbrust aufzuheben. Kaum schlossen sich meine Finger um die kleine Waffe, da schniefte das Mädchen ein letztes Mal und stieß ein leises böses Lachen aus. Ich

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