Schattenwanderer
bemerkte so auch den von Dach zu Dach springenden Menschen nicht. Die zweite Begegnung folgte kurz darauf. Fünf Untote standen um einen Springbrunnen herum und starrten auf einen nur für sie sichtbaren Punkt. Ihr Blick schien sich an etwas Großartigem verfangen zu haben, von dem sich die toten Augen einfach nicht loszureißen vermochten. Vielleicht war dem ja wirklich so. Die Zombies erinnerten mich an grauenvolle Statuen, die von einem wahnsinnigen Künstler aus dem Krankenhaus der Zehn Märtyrer geschaffen worden waren. Noch einmal dankte ich Sagoth, dass ich den Weg über die Dächer genommen hatte, und nicht über die Straße, auf der es von wandelnden Leichen nur so wimmelte. Irgendwann wäre ich ihnen nämlich nicht mehr entkommen.
Ein letzter großer Sprung – und ich landete auf dem Dach eines Gebäudes, von dem ich in die Straße der Magier gelangte. Da diese weitaus kürzer war als die Straße der Schlafenden Katze oder die der Menschen, lag das Ziel meiner nächtlichen Expedition nun zum Greifen nahe. Das einzige Problem war, dass es um das Haus herum, auf dem ich mich befand, keine anderen Gebäude gab. Als hätte sie eine gigantische Zunge einfach weggeschleckt. Die schwarzen Quadrate an den Stellen, wo einst Häuser gestanden hatten, wirkten wie verwaiste Inseln in jenem Reich der grauen Träume.
Ich lehnte mich gegen den nachgedunkelten Schornstein, zog den einen noch verbliebenen Handschuh aus und warf ihn fort. Einer nutzte mir ohnehin nichts, und seinen unglücklichen Bruder hatte sich der kichernde Quäker als Trophäe gesichert.
Es blieben mir zwei Möglichkeiten, um an mein Ziel zu gelangen. Entweder kletterte ich nach unten und rannte, meine Haut riskierend, das kurze Stück zum Turm des Ordens über die offene Straße. Oder ich sprang, meinen Hals riskierend, zum Haus auf der anderen Straßenseite. Und obwohl das ein dummer Plan war, zog ich ihn der ersten Möglichkeit vor. Auf den Dächern war es weitaus ungefährlicher. Über die halbdunkle Straße zu laufen, das wäre so, als wollte ich auf dünnem Eis einen Janga tanzen. Ich musste zweimal ausholen, bis das Seil auf dem Dach des Hauses gegenüber landete und sich dort sicher verankerte.
Zu meiner Beruhigung ruckte ich noch ein paar Mal am Seil. Bestens. Jetzt galt es nur noch, eine schier selbstmörderische Tat zu vollbringen: mich von diesem Gebäude zu katapultieren, über die Straße zu fliegen und auf dem gegenüberliegenden Gebäude zu landen. Ein paar Mal hatte ich mich dieses Tricks schon bedient. Damals war ich allerdings jünger. Doch dem Elfenseil vertraute ich.
Ich tat den Schritt in den Abgrund, schoss auf das Pflaster zu, flog darüber hinweg, mich mit beiden Händen am Seil festklammernd, das mir plötzlich fadenscheinig vorkam. Die Hauswand mit den dunklen Schlünden der Fenster raste mit katastrophaler Schnelligkeit auf mich zu, drohte schon, mich in einen Fladen zu verwandeln. Instinktiv riss ich die Beine vor, um den Schlag abzumildern, doch da spannte sich das Seil, verwandelte sich von einer geschmeidigen Schnur in etwas ganz und gar Unbegreifliches. Einen geraden Eisenstab, der zusammen mit mir in die Luft ragte. Bis er dann langsam auf das Haus zufuhr. Sobald ich mit den Beinen die graue Fassade berührte, verlor das Seil seine Festigkeit, wurde wieder weich und zog mich geradewegs nach oben.
»Das war ja das reinste Kinderspiel«, sagte ich und untersuchte meine Hände.
Ohne Handschuhe war eine derartige Einlage nicht gerade angenehm, und ich hatte mich so fest an das Seil geklammert, dass rote Streifen auf meinen Handflächen zurückgeblieben waren. Gut, das würde ich überleben.
Die Häuser in der Straße der Magier schienen neuer, zumindest stöhnte das Dach unter mir nicht vor Altersschwäche und drohte auch nicht, jede Sekunde einzustürzen. Rasch setzte ich meinen Weg fort, denn der Morgen stand praktisch vor der Tür. Die gewundene Straße der Magier erinnerte in keiner Weise an die schnurgerade Straße der Schlafenden Katze, die der Menschen oder die Friedhofsstraße. Die Häuser selbst wirkten reicher und neuer. Nahezu jedes zweite Dach – Spitzdächer im Übrigen – bekrönte eine Wetterfahne in Form eines Fabeltiers. An einigen Fassaden nahm ich aus den Augenwinkeln heraus aufwendig gearbeitete Statuen wahr, die die Hauswände schmückten. Was die Bildhauer der Vergangenheit damit hatten darstellen wollen, versuchte ich gar nicht erst herauszufinden. Meine ganze Aufmerksamkeit war darauf
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