Schattenwandler 02. Gideon
verlieren, da es vor dem Morgengrauen erledigt sein muss.“ Sie umarmte ihre Freundin zum Abschied nicht mehr und beachtete auch die Männer nicht. Mit einer eleganten und vertrauten Bewegung ihrer Hand verschwand sie in einem Blitz und in einer kleinen Wolke aus Schwefel.
„Sie macht das immer besser“, bemerkte Jacob und vergaß darüber seine eigenen Sorgen. „Sie ist sehr stark dafür, dass sie so jung ist.“
„Soweit man jemanden jung nennen kann, der fast zweihundertundfünfzig Jahre alt ist.“ Bella lachte und schmiegte sich noch enger an Jacob. „Verglichen mit euch beiden bin ich ein Kleinkind.“
„Ein Küken, kleine Blume“, verbesserte Jacob sie und küsste sie zärtlich auf die Stirn.
„Ich fürchte, ich muss auch los“, unterbrach Gideon, während seine Gedanken um den ungewöhnlichen Aufbruch von Legna kreisten. Er hatte etwas gesehen. Etwas an der Empathin, das ihm nicht ganz klar war, das physiologisch aber möglicherweise alarmierend war. Es war nur ein Eindruck gewesen, da seine Kräfte im Astralzustand nicht so stark waren. Trotzdem hatte es seine Aufmerksamkeit erregt, und er empfand das dringende Bedürfnis, Legna damit zu konfrontieren. Wenn Gideon in seinem langen Leben etwas gelernt hatte, dann dass er mit seinem Instinkt meistens nicht falsch lag.
„In Zukunft, Jacob, werde ich größere Vorsicht walten lassen, wenn ich in die Nähe deiner Frau komme. Ich entschuldige mich.“ Mit einer kurzen Verbeugung verschwand Gideon in einem grellen Blitz aus silbernem Licht.
Jacob und Isabella tauschten einen verblüfften Blick und ebenso verblüffte Gedanken. Aber gleich darauf begannen Bellas Augen über Jacobs Körper zu wandern, und die Natur ihrer Gedanken änderte sich grundlegend, begleitet von einem vieldeutigen Grinsen.
„Hast du Lust auf Sex mit einem Basketball?“, sagte sie auffordernd.
Jacob warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Alle schmerzlichen Erinnerungen waren augenblicklich wie weggewischt beim Anblick seiner Geliebten, die ihm lächelnd zuzwinkerte.
3
Legna materialisierte sich in ihrem Schlafzimmer. Außer dem leisen Plopp verdrängter Luft kündigte nichts ihr Kommen an. Trotzdem würde Noah wissen, dass sie zurück war. Abgesehen davon, dass er ihr Bruder war, spürte er immer, wenn sich eine Energiequelle in seiner Nähe befand. Legna atmete tief aus, während sie sich aufs Bett setzte. Es war tröstlich, unter dem Schutz Noahs zu leben, obwohl sie Bella recht geben musste, dass es angenehm war, manchmal Zeit für sich allein zu haben.
Sie wusste, es war seltsam, dass sie so empfand. Sie war eine Dämonin. Dämonen hielten Privatsphäre für eine überkommene Lebensvorstellung der Menschen. Welchen Sinn hatten Geheimnisse unter Wesen, die, egal, von welchem Element sie ihre Kräfte bezogen, ein angeborenes Feingefühl besaßen, mit dem sie jede Situation sofort erspüren konnten? Noah zum Beispiel konnte das ganze Haus voller Gäste haben, manchmal hundert und mehr, und trotzdem würde er bei jedem einzelnen Energieaustausch wissen, wo er stattfand und worum es ging. Legnas Gespür für Emotionen war ähnlich groß. Sie wusste immer, ohne dass sie danach suchen musste, wer gerade stritt, wer lachte, wer gerade miteinander schlief und wer sturzbetrunken war. Sie lebten alle schon lange, hatten alles gesehen und schon viel kritisierbarere und peinlichere Dinge getan. Welchen Unterschied machten da schon ein paar Wände oder ob man anklopfte? Das war die Philosophie, nach der Gideon lebte. Er vergaß dabei nur die allgemeine Regel, dass er den richtigen Moment abwarten sollte, wenn er unvermittelt gewisse Grenzen überschritt.
Doch mit ihren Gedanken allein zu sein und tun zu können, was sie wollte, dieser Gedanke hatte einen gewissen Reiz. Warum sie den Gedanken gerade jetzt so reizvoll fand, wusste Legna nicht. Es war einfach so. Auch wenn sie wusste, dass es ein falsches Ideal war. Auf der ganzen Welt wimmelte es von Schattenwandlern, und die menschliche Vorstellung von Privatsphäre pflegte die Illusion, Nichtwissen wäre ein Glückszustand.
Und doc h …
Sie war ruhelos, und sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es außer ihrer intuitiv begabten Schwester und ihrem Bruder auch noch andere mitbekommen würden. Normalerweise wurden Dämonen, wenn man bemerkte, dass sie außerordentlich ruhelos und unglücklich waren, in eine Gruppe von Mentoren gebracht, die sie mit Aufmerksamkeit und Ratschlägen überschütteten. Es war ein
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