Schattenwandler 02. Gideon
weit verbreiteter Glaube unter den Dämonen, dass sie ohne eine klare Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Ziele in die Irre geführt werden könnten. Sie waren zu mächtige Wesen, als dass man zulassen konnte, dass sie irgendwelchen Launen nachgaben und sich negativen Einflüssen öffneten. Die Dämonen waren der Überzeugung, dass eine ihrer wichtigsten Aufgaben im Leben war, sich gegenseitig zu führen.
Zum Beispiel Corrine in Fragen der Meditation anzuleiten. Sie war jung und verwirrt und erholte sich gerade von der Zeit, als sie am Energieentzug beinahe gestorben wäre. Konnte man so jemanden ohne Führung und Unterstützung lassen? Das wäre grausam gewesen. Siddahs waren ein weiteres Beispiel. Pate zu sein, wie die Menschen es nannten, war die Pflicht eines jeden Dämons. Alle Erwachsenen und Ältesten Dämonen nahmen die Kinder ihrer Liebsten in ihre Obhut und erzogen sie mit strengerer Hand, als die eigenen Eltern es vermocht hätten. Legna war natürlich die Siddah von zwei Kindern ihrer Schwester. Und neben dieser Rolle, die sie bis jetzt noch nicht wahrnahm, war sie, wie viele Geistdämonen und Körperdämonen, Mentor für die unzufriedene Seele manches Artgenossen, der die Orientierung verloren hatte.
Oder gehörte sie jetzt auch zu dieser problematischen Gruppe? Es war seltsam, aber sie hatte den Verdacht, dass die ganze Aufmerksamkeit und die ständige Begleitung, die auf das Geständnis folgen würde, man fühle sich ruhelos, genau das Gegenteil von dem war, was sie wollte.
Seit der Abberufung fühlte sie sich so. Es hatte zunächst ganz schleichend begonnen, fast unmerklich. Dann hatte sie kleine Wutausbrüche bekommen, was ihr vorher fast nie passiert war. Beim ersten und auch beim zweiten Mal war das noch zu entschuldigen gewesen, wenn man bedachte, was sie durchgemacht hatte, aber was war beim dritten Mal? Und beim vierten? Das passte so gar nicht zu ihr, und es war ein Wunder, dass die Mentoren noch nicht eingegriffen hatten. Allerdings hatte sie sich große Mühe gegeben, die Zwischenfälle geheim zu halten, sie so zu verbergen, wie es wohl nur ein erfahrener Geistdämon konnte. Aber sie bekam Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen, weil sie die Wahrnehmung der anderen manipulierte, und sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Fähigkeiten missbrauchte. Das machte ihre Verwirrung noch größer. Dämonen entschuldigten sich selten für das, was sie mit ihren Fähigkeiten anstellten. Wozu waren ihre Kräfte denn gut, wenn sie sie nicht nutzte? Und dem stimmte sie zu. Man brauchte sich nicht zu entschuldigen dafür, dass man seine Kräfte nutzte, solange man nicht das Gesetz übertrat oder bestimmte moralische Grundsätze verletzte.
Es wäre eine Lüge gewesen, wenn sie sich einreden würde, dass die Veränderungen in ihrer Wahrnehmung und in ihrem Wesen ihr nicht Angst machten. Keine Nacht verging, in der sie nicht darüber rätselte, ob Bellas Schutz während der Abberufung vielleicht doch nicht so vollständig gewesen war, wie alle dachten. Vor Legnas Rettung war es nur ein einziges Mal gelungen, einen Dämon schnell aus dem Pentagramm der Nekromanten zu befreien. Die Folgen waren tragisch gewesen. Das bedauernswerte Geschöpf war in kurzer Zeit wahnsinnig geworden, er hatte seine Brüder angegriffen und sich aufgeführt wie ein Irrsinniger. Die schnelle Rettung war sinnlos und Jacob schließlich gezwungen gewesen, die gequälte Seele zu erlösen.
Was war, wenn mit ihr allmählich das Gleiche geschah? Vielleicht war es dumm und überheblich von ihr zu glauben, dass sie der einzige Dämon sein sollte, der eine Abberufung vollkommen unbeschadet überstanden hatte. Wenn das stimmte, war es dann feige, dass sie niemandem von ihren Ängsten erzählte?
Legna stand wieder auf und rieb ihre Hände, als wenn sie kalt wären, und ging auf dem reich verzierten Teppich, der den Steinboden bedeckte, auf und ab. Ihre Seidenschuhe machten kaum ein Geräusch, und ihr Kleid wehte nur leicht um ihre Beine.
Als ihr bewusst wurde, was sie da tat, hielt sie inne und warf einen Blick zum Himmel, um Kraft zu schöpfen. Dann ging sie zum Fenster und zog die Vorhänge auf, damit sie hinaus auf die weitläufigen Wiesen und Gärten schauen konnte, die sich vor dem großen Schloss erstreckten. Der Ort, den Noah als Heimstadt gewählt hatte, bedeutete ganz klar einen Schritt zurück in die Zeit, als er geboren worden war. Genau wie er hatte auch sie sich in dieser Umgebung immer wohler gefühlt als in den moderneren
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