Schattenwandler 02. Gideon

auf, angefacht von ihrer Unterstellung. Schöne Erinnerungen zu teilen war eine Sache, etwas ganz anderes war es, über den Tod der Eltern zu sprechen. „Du versuchst wieder einmal, vom eigentlichen Thema abzulenken, Magdelegna.“
    „Und das wäre?“
    „Du! Dein Wohlergehen! Muss ich extra darauf hinweisen, dass du gerade vierundzwanzig Stunden geschlafen hast, um dich von dieser Kraftanstrengung zu erholen, auf die du so stolz bist? Wenn es nun schlimmer gekommen wäre? Was wäre, wenn diese unglaubliche Energie, die du durch dich hindurchgeleitet hast, dich vollkommen ausgebrannt und so verletzt hätte, dass Schlaf dich nicht hätte heilen können?“
    „Ich habe darüber nachgedacht, Noah. Auch wenn Hannah und du das wohl anders seht, aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin mir der Folgen dessen, was ich oder andere tun, durchaus bewusst. Würde es dich beruhigen zu wissen, dass es mir ganz schön schwerfällt, die Situation zu akzeptieren, und dass ich mir schon genug Sorgen mache, auch ohne deine Untergangsprophezeiungen?“ Sie fuhr herum und knallte frustriert die Schranktüren zu. „Ich kenne ihn kaum, Noah, und jetzt übernimmt er die Hälfte meines Wesens. Alles, was ich von ihm weiß, kenne ich aus Geschichten, die ich als Kind über ihn gehört habe und die, offen gesagt, manchmal ziemlich erschreckend waren. Du kannst mir also glauben, dass ich ziemlich entsetzt bin, falls dich das zufriedenstellt!“
    Sie seufzte leise und wandte sich langsam zu ihm um, die Arme um den Leib geschlungen. „Vor vierundzwanzig Stunden ist mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt worden.“ Legna lehnte sich mit dem Rücken an den Schrank, schloss die Augen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Seit es angefangen hat, wollte ich unbedingt mit jemandem darüber sprechen. Die Person, der ich mich anvertrauen wollte, habe ich dann in einer großen Lache ihres eigenen Blutes auf dem Boden in ihrem Wohnzimmer gefunden.“
    „Legna“, sagte Noah, und aus seinen Augen und aus seiner heiseren Stimme sprach die gleiche Traurigkeit. Angesichts ihrer Tränen löste sich seine Wut augenblicklich in nichts auf. „Ich wollte nich t … “
    „Das weiß ich. Aber du musst verstehen, dass ich, seit man mich letzten Oktober mitten aus meinem Leben gerissen und in dieses fünfeckige Gefängnis gesteckt hatte, darum kämpfe, den Überblick zu behalten. Seit diesem Tag habe ich keinen Frieden mehr gefunden, Noah. Mit dir kann ich über die Sache immer nur streiten, und mit Hannah ist es auch nicht besser. Ich verstehe durchaus, dass es daran liegt, was mit Vater passiert ist und wie sehr euch beide das belastet.“
    Legna stieß sich vom Schrank ab, ging hinüber zu ihm und nahm seine Hand. „Es war Gideon, der herausgefunden hat, warum ich so rastlos bin, und er war es auch, der mir schließlich zu ein wenig Ruhe verholfen hat.“
    „Legna, das ist nur seine Macht. Es bedeutet nich t … “
    „Noah, bitte. Könntest du endlich aufhören, mit mir zu streiten, und mich lieber unterstützen? Gideon und ich haben nicht aus einer Laune heraus irgendeine leichtfertige Entscheidung getroffen. Das Schicksal hat uns auserwählt. Sicher, es lag an mir, es anzunehmen, aber du hast ja keine Ahnung, wie sich so eine Prägung anfühlt, wie stark sie ist. Muss ich dich erst an Jacob und Bella erinnern? Sie war ein Mensch und zu der Zeit, als sie sich begegnet sind, nach unseren Gesetzen absolut tabu. Und doch hat Jacob mit den seit Jahrhunderten überlieferten Grundsätzen gebrochen, nur damit er sie berühren konnte. Egal, wie sehr ihn das innerlich zerrissen hat.“
    „Du kannst Gideon nicht mit Jacob vergleichen. Es gibt Ding e … “ Noah brach ab und fuhr sich frustriert mit der Hand durch das Haar. „Ich kenne dich, Legna. Du bist eine große Freundin von Kompromissen. Gideon aber wird niemals einen Kompromiss eingehen. Er fordert und handelt und erwartet, dass niemand ihm widerspricht. Falls es jemand versucht, ignoriert er ihn einfach. Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass du in einer solchen Beziehung lebst.“
    „Noah, hör bitte auf, ihn als manipulatives Monster darzustellen. Du weißt, das ist eine Lüge, und ich werde es nicht dulden. Ich liebe dich, Noah. Und ich werde dich immer lieben. Ich verstehe deine Angst, aber du musst herausfinden, welche Gefühle sich bei dir tatsächlich dahinter verbergen. Ich glaube nicht, dass es um Gideons Alter oder um seine Macht oder um seine groben Umgangsformen geht,