Schattenwandler 03. Elijah
Wurfspeer, den sie auf Elijahs Herz geschleudert hatte. Wieder versuchte sie, Sienas gezielten Streichen auszuweichen und fuhr herum, um zu sehen, ob sie ihre Tochter aus dem Würgegriff des Riesen befreit hatte.
Einen Moment lang wurde Ruth von einer belebenden Freude durchpulst, als sie Elijah im hohen Gras vornübergebeugt knien sah. Gleich darauf jedoch drehte er sich zu ihr und zu seiner Gefährtin hin, und in seinem Mienenspiel zeichnete sich Entsetzen ab und Schmerz. Ruths Blick wanderte nach unten, und sie wurde zerrissen von Todesqual und Zorn. Im Schoß des blonden Riesen lag ihre Tochter, aufgespießt von der Waffe, mit der Ruth den Kriegerführer hatte treffen wollen.
Vor Ruths Augen flimmerte es erst schwarz, dann rot, und das Bild von dem unbegreiflichen und unfassbaren Geschehen flackerte unerträglich deutlich durch ihren Verstand. Und mit dem Begreifen kamen Ruhe und Klarheit, wie sie in solchen Augenblicken nur der Wahnsinn gewährt. Sie richtete ihre blutunterlaufenen, hasserfüllten Augen auf die Werkatze vor ihr und stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus.
„Es ist noch nicht vorbei“, fuhr sie Siena zischend an. „Ihr werdet für mein Kind bezahlen mit euren Kindern. Das schwöre ich euch! Euch allen!“
Dann teleportierte Ruth sich jäh und unvermittelt fort und machte damit unmissverständlich klar, dass nichts mehr sie hier hielt. Die eisigen Worte der Verräterin klangen Siena noch in den Ohren, als sie sich zu Elijah umdrehte. Erst da wurde ihr klar, wie ernst die Drohung war, die Ruth soeben ausgestoßen hatte.
Mary war tot.
Und Ruth würde dafür sorgen, dass sie mit dem Blut ihrer eigenen Kinder bezahlen würden.
19
Der Windstoß, der auf den Balkon vor der Bibliothek der abgeschieden liegenden Blockhütte wirbelte, verfestigte sich in der ersten Morgendämmerung zur Gestalt der Königin und des Kriegers. Fast so, als wollten sie einander Halt geben, materialisierten sie sich eng umschlungen. Da beide sich sowohl mental als auch körperlich erschöpft fühlten, war es wahrscheinlich auch so. Elijah bewegte sich als Erster und berührte mit seinen warmen Lippen die unlängst genähte Risswunde über Sienas goldenen Augenbrauen.
„Ich freue mich darauf, wenn Gideon deinem Volk endlich als Heiler helfen kann“, flüsterte er ihr leise zu, die Lippen an ihrer Stirn. Er konnte es nicht mit ansehen, wenn ihr auch nur das Geringste fehlte. Und er würde bestimmt lange brauchen, bis er vergaß, wie sie mit Brandblasen übersät und am Ende ihrer Kräfte auf ihrem Krankenlager gelegen hatte.
„Pst …“, machte Siena beruhigend, während ihr Mund zu seinem Hals wanderte. „Ich bin in deinem Geist, Krieger.“ Das war ebenso sehr als Schelte wie auch als Erinnerung gemeint. Sie war genauso wenig daran gewöhnt, dass jemand sich Sorgen um sie machte, wie er. „Gideon ist großartig. Ich bin mir sicher, dass er einen Zugang zu unserer Körperchemie findet. Inzwischen verheilt das da von ganz allein.“
Sie hob den Kopf und sah sich gründlich um und nahm in sich auf, wie das Licht die Dunkelheit allmählich verdrängte. Die Nacht gehörte nun vollständig der Vergangenheit an, obwohl es erst wenige Stunden her war, dass sie in den Kampf gezogen waren. Elijah hatte sie in Windeseile durch zahlreiche Zeitzonen gebracht und war dabei dem Weg der Dunkelheit gefolgt, bis sie schließlich bei Tagesanbruch hier angekommen waren.
„Wir sind hier nicht auf dem Gebiet der Lykanthropen“, bemerkte sie und betrachtete die weite, baumlose Steppe sowie den Graben, in dem sich das hohe Gras im Wind bog. In dieser Gegend fing gerade der Herbst an, während man in ihrer Heimatprovinz jeden Moment mit dem ersten Schnee rechnen musste.
„Richtig“, murmelte Elijah und fuhr mit seinen warmen Lippen über ihr Haar, während er sie fester an sich zog. „Keine Burg. Keine Wächter. Keine Botschafter, Berater oder Generäle …“
„Und keine Nacht“, wandte sie trocken ein.
„Kein Problem“, entgegnete er lachend. „Vertrau mir. Mir geht es darum, dass es hier keine Feinde gibt und dass hier keine Gefahr droht, und vor allem keine dringenden Sorgen, die nicht noch ein paar Stunden warten könnten.“
„Das geht leider nicht, wo diese Wahnsinnige den Planeten unsicher macht“, gab sie bekümmert seufzend zurück.
„Solange wir nicht genau wissen, wohin sie geflüchtet ist, haben wir es nicht in der Hand. Nur Jacob und Isabella können herausfinden, wohin sie gegangen ist. Sie ist
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