Schattenwandler 05. Noah
orientierungslos und lethargisch, ein Zustand, den das Sonnenlicht mit sich brachte. Als er die Augen öffnete, sah er die Farbsprenkler, die den Raum vergoldeten. Er verstand nicht, weshalb er aufgewacht war, und rollte sich zu Kestra herum, die an seinen Rücken geschmiegt eingeschlafen war, während sie träge mit seinem Haar gespielt hatte.
Sie lag nicht neben ihm, und sein Herz machte einen Satz. Er setzte sich auf und blickte aufmerksam durch den Raum. Er atmete erleichtert aus, als er sie an einem der deckenhohen Fenster stehen sah, wo sie neugierig die Farbfelder nachzeichnete. Sein Herz sehnte sich augenblicklich nach ihr, als er ihre bunt besprenkelte Gestalt sah, die in ein graugrünes Laken gehüllt war, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen. Er bemerkte am Einfallswinkel des Lichts im östlichen Fenster, dass es noch nicht einmal Mittag war.
Leise stand er auf, ging zu ihr hinüber und legte ihr die Hände auf die Schultern. Mit einem leisen Seufzen, das für seinen friedlichen Gemütszustand zu traurig und besorgt klang, lehnte sie sich an ihn. Seine Finger glitten über ihr Schlüsselbein und ihren Hals hinauf, eine beruhigende Geste, während er sich abmühte, die Fragen, die ihn beschäftigten, für sich zu behalten. Er konnte sie nicht drängen, konnte nicht erwarten, dass sie sich für ihn und für all das entschied, was er so rückhaltlos und ohne sich besondere Gedanken zu machen offengelegt hatte.
»Du bist so klug«, bemerkte sie leise und gab ihm so zu verstehen, dass sie seine Gedanken und sein Zaudern mitbekam. »Ich glaube, dass vor allem deine Klugheit und deine Überzeugungskraft Eindruck auf mich gemacht haben.« Sie fuhr mit einem Finger über den Rücken seiner Hand, die auf ihrem Hals lag. »Ich habe mich gefragt, wie ich dir erklären soll, dass das zwischen uns noch nicht geregelt ist, und plötzlich wachst du auf, und deine Gedanken verraten mir, dass du es schon verstanden hast.«
Kestra drehte sich zu ihm um und blickte ihn mit sanftem, wenn auch ernstem Ausdruck an. Er schmiegte seine Hände an ihren Hals und fuhr mit seinen Daumen an ihrem Kiefer entlang.
»Ich bin nicht so großmütig, dass ich mich nicht vor deiner Unabhängigkeit fürchten würde, falls es um dieses Thema geht, Kes, doch ich weiß genau, dass ich dich nie halten könnte, wenn du nicht deine Unabhängigkeit hättest. Ich hoffe, du verstehst, dass ich nicht alles auf einmal erwarte. Dass ich es nur brauche, dass du in der Nähe bist, während ich versuche …« Er zögerte und suchte nach den richtigen Worten.
»… mich davon zu überzeugen, dass du recht hast?« Sie stieß ein ironisches Lachen aus. »Du hast einen besitzergreifenden Zug.«
»Das …« Er stieß einen frustrierten Laut aus, nicht daran gewöhnt, dass jemand jedes Wort von ihm schon vorhersagen konnte. »Ich wollte gerade sagen, dass das bei allen geprägten Paaren so ist, aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Du hast recht. Ich war schon immer besitzergreifend und beschützend gegenüber denen, die ich als die meinen ansehe. Ich bin es gewöhnt, weil das Eigenschaften sind, die für mein Leben und für meine Herrschaft notwendig sind. Wie sollte ein König, wenn es um das Wohl seines Volkes geht, auch nicht so sein? Wenn ich mich zu sehr kümmere und wenn es dann fehlschlägt, kann ich es trotzdem nicht bedauern. Gleichgültigkeit ist der Fluch derjenigen, die ein langes Leben haben, und ich werde meine Verantwortung nicht vernachlässigen. Ich glaube, dass Nationen dann dem Niedergang anheimfallen, wenn ein Monarch oder Anführer sich nicht mehr so um seine Leute kümmert, als gehörten sie zu seiner Familie.«
»Ich verstehe das ja, und ich verurteile dich nicht dafür, Noah. Ich bin es einfach nur nicht gewöhnt.«
»Ich muss dich warnen, Kes«, flüsterte er und lehnte seine Stirn gegen die ihre, wobei er kurz die Augen schloss. »Die Nacht von Samhain ist heute, und es ist eine Nacht der Extreme, die nichts gleicht, was du bisher erlebt hast – oder jemals erleben wirst. Es verstärkt das an unseren Gefühlen, was wunderbar ist, und das, was flüchtig ist.«
»Ich weiß, Noah. Ich habe deine Erinnerungen gesehen. Ich habe deinen Schmerz und dein Verlangen gespürt.«
»Verlangen.« Er lachte freudlos. »Heute Abend wirst du eine neue Definition des Begriffs kennenlernen. Und ich auch, nehme ich an. Nein«, sagte er rasch, als er spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. »Hab keine Angst. Wenn du es annimmst und
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