Schattenwandler 05. Noah
Objektspringen von einem verbotenen Gebäude, wo man gleich, wenn man aufkam, die Beine in die Hand nehmen musste, bevor die Ordnungshüter auftauchten. Sie hatte das zweimal getan und hatte sich trotzdem nicht so lebendig gefühlt wie in diesem Augenblick. Sie saß am Waschtisch und rieb ihr Haar mit einem Handtuch trocken, als sie bemerkte, dass es keinen Föhn gab. Es gab auch keine Steckdosen dafür. Aber es war ja auch ein Schloss. Es gab gerade mal Gaslicht. Doch das Wasser war stets heiß. Das musste ja irgendwie bewerkstelligt werden. Und wurde Wasser nicht durch elektrische Pumpen nach oben gepumpt?
Ohne sich dessen bewusst zu sein, war sie in Noahs Kopf geschlüpft und holte sich dort die Antworten auf ihre Fragen. Sie sprang auf und warf dabei den Hocker um.
Überhaupt kein Strom?
Es herrschte einen Augenblick Funkstille, und sie begann mit dem Fuß zu klopfen, während sie die Hände ungeduldig in die Hüften stemmte, in der einen immer noch ein Handtuch, und sich im Spiegel anstarrte, als starrte sie ihn an.
Kes, zieh dir bitte etwas an und komm runter. Jetzt gleich, bitte.
Das war eindeutig ein Befehl, auch wenn er in freundliche Worte gekleidet war. Normalerweise hätte sie das sofort wütend gemacht, doch in seinem Tonfall lag etwas, das den Bereich in ihrem Gehirn ansprach, der ihr sagte, dass sie sehr genau darauf achten sollte, um was für eine Situation es sich handelte und wie sie emotional darauf reagierte. Sie vergaß ihren Grimm über die fehlende moderne Technik und beeilte sich, ein schlichtes Kleid auszuwählen, ein Minikleid aus kobaltblauem und weißem Gingham, in dem sie aussah wie fünfzehn, doch es war das legerste und pflegeleichteste Outfit, das sie besaß. Sie stürzte barfuß aus dem Raum, während sie ihr nasses langes Haar zurückwarf, um es in Ordnung zu bringen, und spürte, wie es augenblicklich ihr Kleid durchnässte. Ihre Füße flogen über die wunderschöne Perserbrücke, die den Flur im dritten Stock schmückte und weiter die Treppe hinunter verlief. Sie rannte eine steinerne Wendeltreppe hinunter, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die in den Hauptraum im ersten Stock führte. Als sie mit vollem Schwung angeschossen ankam, wurde sie von einem kräftigen Arm gepackt, der sie auffing und sie an seinen Körper zog.
»Hoppla, Noah … ich glaube, du verpasst etwas.«
Kes hob den Blick weit hinauf zu einem blonden Riesen, dessen Haar so golden war wie ihres weiß. Seine heiteren grünen Augen betrachteten sie einen Augenblick lang, während er sie herunterließ. Kes wollte sich eigentlich bedanken, doch ihre Hände lagen auf seinem Bizeps, und sie brauchte eine Weile, um die dicken Muskelpakete zu bestaunen. Kein Wunder, dass er sie aus der Luft gefangen hatte, als wäre sie ein Staubkorn. Er war riesengroß.
»Ich danke dir, Elijah«, sagte eine vertraute Stimme an ihrem Ohr, und Noah zog sie mit dem Rücken an sich. Kestra schüttelte belustigt den Kopf. In ihrem ganzen Leben war sie noch nicht so oft hochgehoben und herumgeschubst worden. Es war etwas seltsam Weibliches, von Männern, die nicht eine Sekunde darüber nachdachten, ob sie überhaupt das Recht dazu hatten, einfach hochgehoben zu werden. Sie gingen wohl davon aus, dass das ein angeborenes Privileg war.
Kes spürte Noahs Arm um ihre Taille, und er zog sie an seinen unglaublich warmen Körper, und als sie sich an ihn schmiegte, überkam sie ein so überwältigendes Gefühl von Geborgenheit, dass sie unwillkürlich errötete. In diesem Moment bemerkte sie, dass sich noch mehr Leute im Raum befanden.
Mehr Männer, vielmehr.
Den Heiler erkannte sie sofort. Seine silbernen Augen und sein silbernes Haar waren ziemlich auffällig. Wichtiger war jedoch, dass sie eine Aura um ihn herum wahrnahm. Einen lavendelfarbenen Nebel, gesprenkelt mit Farbspritzern wie bei hingesprühten Graffiti. Ein rascher Blick auf die anderen zeigte ihr, dass sie alle ganz normal aussahen.
Ein schlanker Mann mit fast ebenso breiten Schultern wie Noah stand rechts von dem Heiler. Er lehnte mit einer Schulter lässig an einer Wand und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er hatte dunkles Haar und ebenfalls dunkle Augen. Sie konnte die Iris kaum von den Pupillen unterscheiden. Seine Haltung strahlte ein Selbstvertrauen aus, das die Kraft verriet, die hinter der äußerlich gelassenen Erscheinung stecken musste.
Kurz gesagt, sie befand sich in einem Raum mit vier der eindrucksvollsten Männer, die sie je gesehen hatte.
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