Schattenwende
berührte.
Zwar hatte sie mit viel Mühe gelernt, Barrieren dagegen zu errichten, sonst wäre sie am Unglück der anderen selbst zerbrochen. Doch als Daphne vorhin von diesem Mann berührt worden war, hatten sämtliche Schutzmechanismen versagt und ihre Gabe war in ihrer ganzen Grausamkeit in Erscheinung getreten.
Doch sie hätte niemals vermutet, dass es noch andere wie sie gab. Dwight – wie Reagan ihn genannt hatte – besaß offenbar die gleiche Begabung. Er hatte ihre Gedanken und Gefühle ebenso lesen können wie sie seine, dessen war sie sich sicher.
Unter anderen Umständen wäre sie für diese Begegnung dankbar gewesen, hieß es doch, dass sie nicht alleine war.
Doch Dwight war durch und durch voller Hass und Bösartigkeit. Etwas Fremdartiges pulsierte durch seine Gefühlswelt und dieses etwas hatte sich in der kurzen Szene offenbart, die sie erhascht hatte, bevor es ihnen gelungen war, die Bindung zu lösen. Aber Daphne war ein Mensch und ihr Verstand weigerte sich, das zu glauben, was ihre Seele längst begriffenhatte. Kein Mensch besaß solche langen Eckzähne, es sei denn, er war ein Psychopath und hatte sie sich künstlich verlängern lassen. Diese Möglichkeit war immerhin angenehmer als alle anderen. Glücklicherweise war er verschwunden …
Dennoch, sie saß in der Falle, denn der andere Psychopath befand sich direkt vor ihr. Tränen stiegen in ihre Augen, als sie an Halie dachte. Wie gut, dass sie bei ihrer Tante war. Hoffentlich in Sicherheit.
Am liebsten hätte Reagan Dwight den Hals umgedreht.
Die Hilflosigkeit, die er nun empfand, wo diese verloren wirkende Frau vor ihm hockte, verwandelte sich in ein flammendes Bedürfnis nach Vergeltung.
Er wäre dem Krieger gerne auf der Stelle gefolgt und hätte auf ihn eingeprügelt, bis er sich auf Knien bei Daphne entschuldigte. Dabei hatte sein eingeschworener Bruder sogar Recht.
Allem Anschein nach war irgendetwas zwischen den beiden geschehen, sodass sie nun mehr wusste, als gut für sie war. Und für die Gemeinschaft. Trotzdem war Dwight weit über das Ziel hinausgeschossen. Er hätte Daphnes Bewusstsein manipulieren können, das wäre legal gewesen. Und es hätte völlig ausgereicht.
Entschlossen griff er mit beiden Händen nach Daphnes Gesicht und zwang sie, seinen unerbittlichen Blick zu erwidern.
„Daphne, du musst mit mir sprechen. Ich kann dir helfen. Aber du musst mir vertrauen. Hätte ich dir etwas antun wollen, hätte ich es doch schon längst getan, oder?“
Er sprach so sanft zu ihr wie zu einem verletzten Tier. Seine Worte drangen langsam zu ihrem Verstand vor und sie begann erneut zu zittern.
„Ich weiß nicht, was er hier wollte“, erwiderte sie zögernd, ihre Stimme bebte verdächtig.
„Er … er sagte, er suche nach jemandem. Nach dir. Ich wollte nicht mit ihm reden, aber er kam immer näher und …“
Ein Schluchzen stieg in ihr auf, das es ihr unmöglich machte, zu sprechen. Mit dem Daumen fuhr Reagan behutsam über ihre Wange und ermutigte sie, fortzufahren.
„… er hat mich berührt. In dem Moment geschah etwas mit uns. Als wären wir miteinander verbunden. Ich spürte seine Feindseligkeit. Ich sah Szenen aus … aus seinem Leben. Schreckliche Bilder.“
Ein Weinkrampf schüttelte ihren zierlichen Körper, sodass er sie in die Arme schloss und festhielt. Tränen rannen über ihre Wangen und bildeten feuchte Flecken auf seinem Pullover.
„Scht…“, murmelte Reagan beruhigend und wiegte sie sachte.
„Er … ich hab gesehen, wie er sich an einer Frau vergangen hat. Und er hatte Fangzähne.“
Reagan presste die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kiefer knackten. Er wollte nicht losbrüllen, wollte seinen Zorn über Dwights Zügellosigkeit nicht befreien, um sie nicht noch mehr zu verängstigen.
Stattdessen versuchte er, zu verstehen, was da passiert war. Offenbar hatte Dwight die Kontrolle über seine Begabung verloren und Daphne war Opfer seiner ungezähmten Emotionen geworden. Sie hatte in die dunkelsten Abgründe seiner Seele blicken können und das hatte ihn in seine tödliche Raserei verfallen lassen. Aber warum war sie überhaupt in der Lage, das zu tun? Normalerweise konnten nur Vampire die Gefühle eines anderen spüren. Nicht aber Menschen. Mit Ausnahme ein paar weniger …
Reagan stockte der Atem. Er umfasste Daphnes Kinn mit seinen Fingerspitzen und fixierte sie ernst.
„Sieh mich an“, befahl er und sie hob instinktiv den Blick.
Ihre dunkelbraunen Augen waren zwei bodenlose Löcher,
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