Schattenwende
weiter anschwoll, bis ihr bewusst wurde, dass es ihr eigenes Schreien war, das von den Wänden ihrer Wohnung widerhallte. Mit einer furchtbaren Kraftanstrengung gelang es ihr, die merkwürdige Verbindung zu dem Mann zu lösen, und sie fiel nach hinten an die Wand. Ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrten in die des Mannes, der sie mit einer Mischung aus Abscheu und Überraschung ansah.
„Du bist Emapthin“, zischte er verächtlich.
Seine Worte erreichten sie nicht. Immer wieder erschien das Bild der langen Reißzähne vor ihren Augen und sie begann unkontrolliert zu zittern.
„Was bist du?“, flüsterte sie erschüttert.
Er verzog seine Augen zu Schlitzen und zog in einer für sie fast nicht sichtbaren Bewegung einen Dolch aus seinem Gurt.
Darauf bedacht, sie nicht zu berühren, näherte er sich mit böse funkelnden Augen.
„Du hast es doch gesehen, was fragst du also noch?“
Sie fragte, weil sie nicht glauben konnte, was sie gesehen hatte. Ihr Verstand weigerte sich beharrlich, das Gesehene als Wahrheit zu akzeptieren.
„Was willst du jetzt tun? Mich töten, weil ich das gesehen habe?“, fragte sie erstickt.
Er antwortete nicht.
Ein kalter Windhauch strich über sie beide, als eine gefährlich leise Stimme die tödliche Stille durchtrennte.
„Leg sofort die Waffe weg, Dwight, oder ich zerreiß dich augenblicklich in Stücke.“
Der Angesprochene erstarrte.
„Du weißt, dass ich mich nicht gern wiederhole.“
Reagan bewegte sich ungerührt vorwärts, bis er sich schützend zwischen Daphne und den Vampir schieben konnte. Keiner von beiden rührte sich, doch Daphne spürte den stummen Kampf, den beide miteinander ausfochten.
„Sie weiß zuviel“, zischte Dwight und packte den Dolch so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Plötzlich krachte es und Dwight lag am Boden. Blut sickerte aus seiner Nase.
„Verschwinde, ehe ich mich nicht mehr zurückhalten kann“, herrschte Reagan ihn an, die Faust noch kampfbereit erhoben.
Mit wutverzerrtem Gesicht raffte Dwight sich auf und warf Daphne einen hasserfüllten Blick zu, ehe er sich aus dem Fenster schwang und in die Nacht verschwand.
Reagan brauchte einen Moment, um seine Fassung wieder zu gewinnen und seine Gedanken zu ordnen. Das würde Konsequenzen für den Krieger haben. Niemand stellte seine Befehle in Frage, nicht einmal der Gefährte, der am längsten an seiner Seite war. Der Faustschlag war nur ein Vorgeschmack auf die Strafe gewesen, die noch folgen würde.
Schließlich drehte sich der Vampir um. Daphne saß still auf dem Boden und hielt sich die Hände vor ihr Gesicht, das totenblass war.
Er ging vor ihr auf die Knie und zog ihre Hände vorsichtig herunter.
„Er ist weg. Dir kann nichts mehr geschehen. Erzähl mir, was passiert ist“, forderte er sie leise auf. Doch Daphne zuckte vor ihm zurück.
„Fass mich nicht an“, schrie sie, ihr ganzer Körper bebte so heftig, dass sie gegen eine Vase stieß, die scheppernd umfiel und zersplitterte.
Er missachtete ihren Protest und nahm ihre Hand in seine, schloss seine Finger fest darum, damit sie ihm diese nicht entziehen konnte.
„Daphne, ich tue dir nichts. Vor mir brauchst du keine Angst zu haben“, sprach er tröstend auf sie ein.
„Du bist genauso wie er“, war ihre erstickte Antwort.
Daphne war kurz davor, sich zu übergeben. Der Schock hatte sie übermannt und sie fand keinen Weg aus dem Grauen, das sie gefangen hatte.
Ständig hatte sie die Gestalt des Mannes vor Augen, der sie hatte töten wollen. Waren die Fangzähne, die sie gesehen hatte, nur eine Folge ihrer Angst gewesen? Oder war sie kurz davor durchzudrehen?
Sie war schon immer anders gewesen, das wusste sie. Hatte es schon seit frühster Kindheit tief in sich gespürt. Nie hatte sie sich jemandem anvertraut, in der ständigen Furcht, man könnte sie für verrückt erklären und wegsperren. Ihren Eltern war das durchaus zuzutrauen, denn alles, was sie wollten, war eine perfekt funktionierende Tochter. Aber das war sie nie gewesen.
Es hatte begonnen, als man ihre Katze angefahren hatte. Daphne hatte das arme Wesen gefunden, als es, nur noch schwach miauend, am Straßenrand gelegen hatte. Der quälende Schmerz des Tieres war wie ein Messerstich in ihre Seele gedrungen und sie hatte das ganze Leid in seiner vollen Stärke mitempfunden. Diese Gabe hatte sich mit der Zeit immer weiter entwickelt. Sie war in der Lage, die Emotionen eines anderen Lebewesens aufzufangen, wenn sie es
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