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Schattenwende

Schattenwende

Titel: Schattenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Seck
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räusperte sich.
    „Außerdem ertrage ich es in der Idylle von Janets Haus nicht, wo doch irgendetwas in meinem Leben offensichtlich nicht normal verläuft“, fügte sie gedankenverloren hinzu.
    „Warum glaubst du nur immer, ich würde dir deine Lügen abnehmen?“, fragte er, seine Miene war plötzlich wieder finster und verschlossen, so abweisend, dass es sie ängstigte. Nun sah sie doch weg, blickte hinunter auf ihre Hände, die von seinen umschlossen wurden.
    Was sollte sie darauf antworten? Sie konnte ihm natürlich sagen, dass sie sich mittlerweile für ein seelisches Wrack hielt, aber sie hatte die vage Vermutung, dass das für den Verlauf des Abends nicht unbedingt stimmungshebend sein würde.
    Glücklicherweise suchte der Kellner sich diesen Moment aus, um ihnen die Getränke samt Speisekarte zu bringen.
    Reagan ignorierte ihn, hielt seinen Blick unverwandt auf sie gerichtet.
    „Wir nehmen das Tagesgericht.“
    „Natü’lich, eine ausgezeichnete Wahl!“
    Damit entfernte er sich rasch, wie es von Reagan unübersehbar gewünscht war.
    „Also?“, hakte er eindringlich nach.
    „Ich … Es wächst mir alles über den Kopf“, flüsterte sie so leise, dass sie hoffte, er würde es nicht hören. Doch er hörte jedes Wort.
    „Was denn? Rede mit mir. Erzähl mir, was dich bedrückt, Daphne. Du kannst mir vertrauen, das schwöre ich.“
    „Vertrauen?“, wiederholte sie nachdenklich und lachte leise auf. Resigniert.
    „Man kann niemandem außer sich selbst vertrauen. Und nicht einmal das kann man immer. Ich weiß, wovon ich spreche.“
    Sie entzog ihm ihre Hände und stützte ihr Kinn darauf, beobachtete mit leerem Blick das Treiben der Fische im Aquarium.
    Als sie wieder zu sprechen begann, schloss sie die Augen, um nicht Gefahr zu laufen, an einem öffentlichen Ort in Tränen auszubrechen.
    „Ich fühle mich so verloren, Reagan. Gefangen in einer Welt, in der mich niemand versteht, in der niemand so ist wie ich. Ich hatte immer alles, hatte reiche Eltern, viel Geld, das ich ausgeben durfte, folglich auch viele Freunde, einen riesigen Bekanntenkreis. Aber ich habe immer gespürt, dass etwas fehlt. Ich wusste nur nie was. Erst dachte ich, es wäre Liebe. Aber darin habe ich mich geirrt. Das konnte es nicht gewesen sein.“
    Sie dachte schmerzlich an die Zeit mit Anthony zurück und zwang sich fortzufahren:
    „Ich habe dir von meiner seltsamen Gabe erzählt. Ich glaube, es hängt damit zusammen. Ich bin um ein Vielfaches empfindsamer, sensibler als andere Menschen. Ich bemerke Dinge, die andere nicht bemerken, gar nicht bemerken können.“
    Sie stockte, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten.
    „Es ist, als wären alle blind und nur ich könnte sehen, verstehst du? Vor allem sehe ich die schlimmen Dinge. Ich sehe die böse Seite des Lebens. Ich lese die Tragödien der Menschen in ihren Emotionen und es machte mich fertig. Ich war kurz davor, daran kaputt zu gehen. Deswegen habe ich all meine Kraft zusammengenommen und es geschafft, Mauern um mich herum zu errichten, durch die nichts mehr hindurch dringen kann. Aber zu welchem Preis? Ich fühle nichts mehr. Nur noch Leere. Keine Freude, keine Liebe, keine Begeisterung. Der winzige Rest, der mir geblieben ist, reicht gerade aus, um meiner Tochter das zu geben, was sie braucht. Aber für mich, geschweige denn für einen anderen, ist nichts mehr übrig.“
    Sie zögerte für einen Augenblick.
    „Als dein … Bruder bei mir aufgetaucht ist, um nach dir zu suchen, da habe ich für einen klitzekleinen Moment geglaubt, einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Jemanden, der so ist wie ich. Der mir helfen kann, mit dieser Gabe umzugehen. Aber das kann er nicht, oder? Ich habe gesehen, wie er auf unsere Fähigkeit reagiert. Er hasst sie. Und er wird mir nie helfen, weil ich Dinge gesehen habe, die ich nicht sehen sollte, nicht wahr?“
    Je mehr sie sich öffnete, desto stärker wurde die kalte Wut, die in Reagan heraufkroch. Was hatten ihre Eltern, ihre Freunde, der Vater ihrer Tochter und all die anderen ihr nur angetan? Ihre Gabe war so stark, so pulsierend, dass sie sogar Dwight ebenbürtig war. Welche Bereicherung sie in all ihrer Pracht für die Gemeinschaft sein könnte.
    Doch vielleicht war es noch nicht zu spät.
    Fußschritte rissen ihn aus seinen Überlegungen und er verfluchte innerlich den Kellner, der sich schon wieder den ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht hatte, um das Essen zu servieren.
    „Danke“, knurrte er knapp, als der Chinese die

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