Schattenwende
geschockt. Vampire waren offenbar die einzigen, die ihn erreichen konnten. Er war dabei, eine Lektion zu lernen, über die er bisher nur in der Theorie Bescheid wusste, deren Praxis er aber nie verstanden hatte.
Smith holte tief Luft und riss hektisch an seiner Krawatte, die ihm den Hals zuschnürte. Er brauchte Sauerstoff, viel Sauerstoff, um wieder einen klaren, vernünftigen Gedanken fassen zu können. Er sollte so was nicht denken. Nein, er sollte überhaupt nicht denken. Klare Anweisungen hatte Jones ihm gegeben: forschen und die Klappe halten.
Dafür wurde er bezahlt und das nicht schlecht. Er rieb sich die klammen Finger, schnappte sich den Kugelschreiber, der auf der Arbeitsplatte des Schreibtisches lag, und ermahnte sich, weiter zu arbeiten. Er musste seinen Tagesbericht beenden, auch wenn es nichts Neues zu berichten gab.
Er starrte die Tabellen an, die freien Lücken in manchen Feldern, die davon zeugten, dass er nach wie vor in manchen Bereichen versagte, weil ihm der entscheidende Durchbruch nicht gelang. Er starrte die Zahlen an, die vor seinen Augen verschwommen und die Gestalt einer grinsenden Fratze annahmen. Er blinzelte mehrmals, aber das Bild wollte nicht verschwinden. Keuchend ließ er den Stift fallen und rutschte mit dem hässlich quietschenden Stuhl über den Boden zurück. Sein Herz pumpte und sein Blut rauschte in den Ohren.
Panisch sah er sich in seinem Büro um. Da war nichts. Nichts und niemand.
Und genau in diesem Moment fiel ihm etwas ein. Eine trübe Erinnerung, die seiner frühsten Kindheit zuzuordnen war und somit sehr lange zurücklag. Eine Erinnerung aus einer Zeit, bevor seine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren, er ins Heim kam und Jahr für Jahr von einer Pflegefamilie in die nächste gereicht wurde.
Aus einer Zeit, in der er noch glücklich und zufrieden gewesen war.
Seine Mutter hatte ihm vor dem Schlafen immer eine Geschichte erzählt, meist wahre Begebenheiten aus ihrem Leben. Sie hatte ihm viele weise Dinge erzählt, obwohl er alles davon vergessen hatte, weil er noch zu klein gewesen war, sie zu verstehen.
Es gab allerdings eine Bemerkung, die ihm vage im Gedächtnis hängen geblieben war und sich nun einen Weg an die Oberfläche bahnte:
„Habe Mitleid mit den Armen und Schwachen dieser Welt, Robert. Behandle sie stets freundlich und sei gut zu ihnen und höre auf dein Gewissen. Sei gerecht. Hilf denen, die deine Hilfe brauchen, denn auch du könntest irgendwann mal Not erleiden und die Hilfe anderer benötigen. Lass deinen Geist niemals von Stärke und Macht blenden oder deinen Blick für das Gute in dieser Welt durch Geld trüben. Manches kann man selbst mit Geld nicht kaufen. Es gibt Dinge, die zu wertvoll und kostbar sind, als dass man sie erzwingen könnte.“
Schwer atmend ließ Smith sich gegen die Lehne sinken. Instinktiv wusste er, dass seine Mutter eine kluge Frau gewesen war. Sanft, gutmütig und ehrlich. Aber sie war auch eine einfache Frau gewesen, die nichts von Wissenschaft und der Schlechtigkeit dieser Geschöpfe verstand.
Er durfte sich nicht von seiner Vergangenheit einholen lassen. Er hatte damit abgeschlossen und wollte das Buch seiner Kindheit nicht erneut öffnen. Das letzte, was er nun gebrauchen konnte, war ein Gewissenskonflikt. Denn er hatte Jones seine Loyalität zugesichert und die Drohung, die er ihm gegenüber ausgesprochen hatte, war in seinem Kopf gespeichert.
Smith war kein mutiger, tapferer Mann. Im Gegenteil, er war ein Feigling und ließ sich leicht einschüchtern und beeindrucken.
Er würde sich niemals gegen seinen Chef erheben. Er durfte es einfach nicht.
Zitternd beugte er sich über seinen Schreibtisch und kippte den Bilderrahmen, in dem ein altes, schwarz-weißes Foto seiner leiblichen Eltern eingeklebt war, um.
Er konnte ihren vorwurfsvollen Blick nicht länger ertragen.
Kapitel 10
Ich kannte immer nur Wut, Verdrängung und Hilflosigkeit. Aber der Zweifel, der jahrelang an einem genagt hat, weicht einem seltsamen Selbstbewusstsein, wenn man plötzlich versteht, wer man ist. Man hat plötzlich Kraft, zu wachsen, weil man nicht mehr gegen sich selber kämpfen muss.
Daphne, Liyanerin
„Was willst du tun?“, erkundigte Reagan sich mit zusammengekniffenen Augen.
Sein Atem beschleunigte sich bei ihrem Anblick, wie sie so verletzlich und blass in der Tür stand und beunruhigt jede Bewegung Dwights verfolgte. Vermutlich unbewusst. Und eine Woge des Beschützerinstinktes überflutete ihn.
Betont
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