Schattenwende
denn der Schmerz, die Leere, alles, was immer mehr Einfluss auf sie nahm, ließen sie mittlerweile sogar vergessen, alltägliche Dinge zu verrichten. Selbst zu essen oder zu schlafen vergaß sie bisweilen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie innerlich so wund und kaputt war, dass sie nicht mehr imstande wäre, Halie genug Liebe zu schenken.
Diesen Zerfall ihrer selbst wollte sie ihrer Tochter ersparen. Sie musste Reagans Vorschlag annehmen und sich, zumindest für eine Weile, der Gemeinschaft anschließen, um so zu sein wie sie wirklich war. Um das zu geben, was man von ihr brauchte und was sie geben musste. Sie hatte sogar kurz in Erwägung gezogen, Halie mitzunehmen, wie Reagan es angeboten hatte. Aber der Gedanke an Dwight hielt sie davon ab. Sie traute diesem Vampir nicht. Vielleicht würde er sie auf Reagans Geheiß hin nicht anrühren, aber sie kannte seine Begabung, die ihrer so erschreckend ähnelte, und sie hatte eine dunkle Ahnung, was er damit anrichten konnte, auch ohne jemanden zu berühren. Solange sie sich nicht zweifellos sicher sein konnte, dass Halie dort nichts passieren würde, musste sie bei Janet bleiben. Sie hatte vor dem Frühstück ein langes Gespräch mit ihrer Schwester und deren Mann geführt. Es war nicht leicht gewesen, sie anzulügen, aber es war ihr gelungen, ohne dass sie Verdachtgeschöpft hatten. Sie hatte ihnen erklärt, dass sie in Chicago einen Job angeboten bekommen hatte, bei dem sie viel mehr verdienen würde als sie es jetzt tat. Sie wolle für Halie Geld sparen, damit sie später aufs College gehen und einen besseren Beruf erlernen konnte als sie selbst. Janet und Mark waren verständnisvoll gewesen und hatten versprochen, auf Halie Acht zu geben, als sei sie ihr eigenes Kind. Sie wusste, dass sie den beiden vertrauen konnte, dass sie Halie liebten, trotzdem sträubte sich alles in ihr dagegen, ihr Kind einfach hier zu lassen. Es kam ihr wie Verrat vor. Als würde sie es im Stich lassen.
Als sie Halie am Abend von ihrem vermeintlichen Umzug, von ihrer angeblichen neuen Stelle erzählte, hatte sie ihre Koffer schon gepackt und war abreisefertig. Sie hatte vorher mit Ria telefoniert und einen Treffpunkt vereinbart, an dem sie sie abholen würde. Die Liyanerin hatte sich überrascht über ihren schnellen Entschluss gezeigt, hatte jedoch auch mit warmer, herzlicher Stimme versprochen, dass sie willkommen sei. Daphne hatte das merkwürdige Gefühl, als würde sie diese Frau schon ein Leben lang kennen.
Nun, wo der Zeitpunkt des Abschieds gekommen war, stand Daphne vor ihrer Tochter und hielt sie an sich gedrückt, als würde sie sie nie wiedersehen.
„Pass auf dich auf, ja? Ich versuche, dich jedes Wochenende zu besuchen, wenn es möglich ist. Und wir telefonieren jeden Tag. Und bitte, sei lieb zu Janet und Mark, okay?“
Ihre Tochter war ungewöhnlich still und nickte bedrückt. In ihren Augen aber lag der gleiche ernste Ausdruck wie an jenem Tag, an dem sie mit Cayden gesprochen hatte.
Umständlich ließ sie ihre kleine Hand in die Jackentasche wandern und zog einen sorgfältig zugeklebten Brief aus der Tasche. Darauf stand in unsicherer, doch sauberer Schrift ein einziges Wort: Cayden.
„Gibst du ihm den Brief, Mummy?“
Bittend drückte Halie ihr den Brief in die Hand.
Daphne war sprachlos. Mit keinem Wort hatte sie den Vampir erwähnt oder ihn mit ihrer Abreise in Verbindung gebracht. Ihre Familie sollte glauben, sie würde in einer Firma in Chicago neu anfangen. Mehr hatte sie nicht gesagt.
„Aber Halie – ich sehe Cayden in Chicago doch gar nicht.“
Sie lächelte und kam sich dabei unwahrscheinlich falsch vor.
„Bitte gib ihm den Brief“, beharrte Halie und schloss Daphnes Finger um das Papier.
Hilflos steckte sie ihn in ihre Tasche.
„Ich versuche es“, versprach sie schließlich und beugte sich herunter, um ihre Tochter zu drücken, ehe sie in das wartende Taxi einstieg.
„Mach’s gut, Liebes. Ich rufe dich nachher an, wenn ich angekommen bin. Ich liebe dich, Schatz.“
„Ich dich auch, Mummy.“
Ein seliges Lächeln umspielte die Lippen ihrer Tochter. Daphne holte tief Luft und stieg ein.
Als Reagan das Handy auf den Tisch legte, begegneten ihm drei erwartungsvolle Gesichter.
„Es ist unglaublich“, murmelte der hünenhafte Vampir.
„Was hat Darragh gesagt?“, erkundigte Cayden sich ungeduldig.
„Er hat deine Version bestätigt.“
Dwight gab ein abfälliges Schnauben von sich, was ihm einen strafenden Blick des Anführers
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