Schattenwesen
Hormonehatten ihre Energie gestern Abend und heute Vormittag schon bis zur Erschöpfung beansprucht.
»Und Sie sind gar nicht müde?«, fragte Herr Nachtmann lächelnd.
»Es geht so«, erwiderte ich. »Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen frische Luft. Eigentlich wollte ich mir mal die Burg ansehen.«
Herr Nachtmann runzelte die Stirn. »Das ist nicht ganz ungefährlich. Deshalb stehen auch überall Schilder, dass man das Gelände nur auf eigene Gefahr betreten darf. Leider ist in unserer Stadt bisher kein Geld vorhanden gewesen, um die Anlage so herzurichten, dass man Touristen herumführen könnte. Andererseits …« Er grinste verschmitzt. »… wer will schon Touristen in seinem Vorgarten haben?«
»Schade«, sagte ich ehrlich.
»Sie sind ja keine Touristin, sondern mein Gast. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen die Ruinen zeige?«
»Jetzt?« Ich war ganz begeistert von seiner Spontanität.
»Natürlich jetzt«, nickte er.
Zum Glück war es noch recht hell, aber auf unserem Weg quer über die Wiese begriff ich bald, weshalb es hier gefährlich war. Überall taten sich Abgründe auf, zwischen Grasnarben und Brennnesseln ging es mehrere Meter abwärts in die Tiefen der Burg.
»Eine interessante Wohnlage haben Sie, Herr Nachtmann«, sagte ich, während ich mich umsah.
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, bis wir die ersten Mauern erreicht hatten, die die Umrisse der früheren Gebäudeteile erkennen ließen.
»Wie kommt es, dass Ihr Haus auf den Ruinen einer Burg steht?«, fragte ich.
»Der Bauherr der Villa hat es irgendwie durchgesetzt, dass er als Einziger auf diesem Hügel bauen durfte. Vermutlich hat es ihn eine Stange Geld gekostet. Ich habe das Haus gekauft, als es schon eine Weile leer stand. Mir gefiel die einsame Lage. Hier stört uns niemand und trotzdem haben wir eine Stadt in der Nähe. Außerdem ist die Aussicht sehr schön.«
Ruben deutete auf die Mauer, von der noch am meisten stand.
»Das ist der Wohnturm. Dort lebten der Ritter, seine Familie und einige Dienstboten und Berater. Dieser Teil wurde Ende des zwölften Jahrhunderts erbaut. Die Gesindewohnungen waren in der Ringmauer untergebracht.«
»Die Anlage muss recht groß gewesen sein«, sagte ich anerkennend. »Spannend, sich vorzustellen, wie es damals hier ausgesehen haben mag. Und wo kommt der Schacht vom Verlies heraus? Das Loch ist doch überdacht?«, wollte ich wissen.
Ruben nickte. »In unserem Haus.«
Ich runzelte die Stirn. »Dann hat der Bauherr sozusagen um das Verlies herum gebaut. Und das Fresko vermutlich gekannt. Ob er das Haus wegen des Bildes dort gebaut hat?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht viel über den ersten Besitzer. Aber ausschließen würde ich diese Idee nicht.«
Ein lauer Abendwind ließ das Gras um uns herum sanft rauschen und trug Blütenduft mit sich, aber darüber hinaus war es still. Eine zeitlose Stimmung hier, zwischen den Ruinen, fand ich und hätte stundenlang auf einem Stein sitzen mögen. Es hatte mich schon immerfasziniert, so dicht an Geschichte heranzukommen, dass man das Gefühl hatte, sie atmen zu können.
»Kira …«, fing Herr Nachtmann an und brach wieder ab.
»Ja?«, ermutigte ich ihn und setzte mich auf ein niedriges Mauerstück.
»Über den Tod Ihres Vaters stand einiges in den Zeitungen. Ich weiß, dass es Zweifel daran gibt, ob sein Sturz aus dem Fenster ein Unfall war.«
Ich seufzte. Musste er jetzt davon anfangen? Schade, gerade hier in dieser anderen Welt hatte ich die Geschichte mal kurz vergessen.
»Ein Kollege von der Universität hat ihm unterstellt, dass er … Probleme hatte.«
»… geisteskrank war«, korrigierte ich den Satz. Es tat weh, es auszusprechen, aber ich kannte das Gerede.
»Ich will Sie mit diesem Thema nicht nerven«, sagte Nachtmann, der offenbar bemerkt hatte, dass er genau das tat. »Ich möchte Ihnen bloß sagen, dass ich mir vorstellen kann, was Sie durchgemacht haben. Und dass Sie jederzeit zu mir kommen können, wenn Ihnen das hilft.«
Die Tränen kamen so plötzlich, dass ich gar nicht mehr versuchen konnte sie zu stoppen. Peinlich berührt durchsuchte ich meine Jacke nach einem Taschentuch. Herr Nachtmann griff in seine Tasche und reichte mir eins.
»Das wollte ich nicht«, sagte er etwas unbeholfen und setzte sich neben mich.
»Sie haben ja nichts getan«, sagte ich leise. »Es gab nur bisher niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Er hat mich im Prinzip schon ein paar Wochen
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