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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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um vier Kinder kümmern«, sagte Jess, ohne nachzudenken.
    Einen Moment blieb es still.
    »Entschuldige, das tut mir leid«, sagte Jess hastig. Hatte sie diesen Anruf nicht als versöhnliche Geste gemeint? »Das wollte ich nicht sagen.«
    »Aber du kannst es dir einfach nicht verkneifen, wie?« fragte Barry heiser.
    »Ich hab doch gesagt, daß es mir leid tut.«
    Wieder folgte eine lange Pause. Dann eine Stimme wie aus dem Jenseits. Dumpf, gedehnt. »Hast du meinen Brief bekommen?«
    Jess erstarrte. Sofort fiel ihr das nach Urin riechende Blatt Papier ein. »Was für einen Brief?« fragte sie und hörte im selben Moment aus der Ferne Babygeschrei.
    »Ach Mist, jetzt sind sie aufgewacht«, rief Barry, und seine Stimme klang überraschenderweise fast wieder normal. »Ich muß Schluß machen, Jess. Ich sag Maureen, daß du angerufen hast. Es ist immer ein Vergnügen, mit dir zu reden.«

    Stille. Jess legte hastig auf, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Unmöglich. Konnte sie im Ernst denken, was sie dachte? Konnte ihr Schwager, der Mann ihrer Schwester , um Gottes willen, der Vater ihres Neffen und ihrer beiden Nichten, ein erfolgreicher Steuerberater, konnte er ihr diesen widerlichen Brief geschickt haben?
    Gewiß, er mochte sie nicht. Solange sie einander kannten, standen sie miteinander auf Kriegsfuß. Ihr gefielen seine Werte nicht, ihm gefiel ihre Einstellung nicht. Er fand sie verwöhnt und humorlos und bewußt herausfordernd; sie fand ihn kleinlich, tyrannisch und rachsüchtig. Sie hatte ihn beschuldigt, die Autonomie ihrer Schwester zu untergraben; er hatte sie beschuldigt, seine elterliche Autorität zu untergraben. Eines Tages wirst du zu weit gehen , Jess , hatte er an jenem Abend beim Essen zu ihr gesagt. War das eine Drohung gewesen oder lediglich eine simple Feststellung? Sie erinnerte sich an Barrys Schadenfreude darüber, seinem ehemaligen Geschäftspartner und angeblichen Freund einen Kunden abspenstig gemacht zu haben. Ich vergesse nie etwas, hatte er sich gebrüstet. Ich revanchiere mich.
    War ein schmutziger Brief, wie sie ihn bekommen hatte, Barrys Revanche? Hatte sie ihn so stark gegen sich aufgebracht, daß er sich veranlaßt sah, zu so gemeinen Mitteln zu greifen?
    Aber er war gewiß nicht der einzige Mann, den sie im Laufe ihres kurzen Lebens gegen sich aufgebracht hatte. Jess rieb sich nachdenklich die Nase. Die Kandidatenliste war praktisch endlos. Selbst wenn sie alle Männer, die sie hinter Gitter befördert hatte, unberücksichtigt ließ, blieben die vielen Männer, gegen die sie ermittelt hatte, die Verteidiger, die sie gekränkt hatte, die Kollegen, mit denen sie sich angelegt hatte, die Verehrer, die sie hatte abblitzen lassen. Selbst ihre Verwandten waren vor ihrem besonderen Charme nicht sicher. Jeder beliebige von bestimmt hundert Männern konnte ihr diesen Brief geschickt haben. Sie hatte sich genug Feinde gemacht, um die Post wochenlang auf Trab zu halten.

    Irgendwo läutete es. Jess hob automatisch den Telefonhörer ab und erkannte, sobald sie das Amtszeichen hörte, daß nicht das Telefon geläutet hatte, sondern die Türglocke unten. Mißtrauisch ging sie zur Sprechanlage an der Wohnungstür.
    »Wer ist da?« fragte sie.
    »Adam.«
    Sie drückte auf den elektrischen Türöffner. Sekunden später stand er vor ihrer Tür.
    »Ich hab versucht, dich anzurufen«, sagte er, sobald er sie sah. »Zuerst hat sich niemand gemeldet, dann war dauernd besetzt. Willst du mich nicht hereinlassen?«
    Er ist der unbekannte Faktor, Jess. Wer ist dieser Mann eigentlich ? hörte sie Don sagen.
    »Du mußt ja ganz in der Nähe gewesen sein.« Jess blieb an der Tür stehen und versperrte ihm den Zutritt. »So lange war ich gar nicht am Telefon.«
    »Ich war gleich um die Ecke.«
    »Hast du Schuhe ausgeliefert?«
    »Ich habe auf dich gewartet. Willst du mich nicht reinlassen?« fragte er wieder.
    Er ist der unbekannte Faktor , Jess.
    Sie dachte zu dem Tag zurück, als sie Adam Stohn zum ersten Mal begegnet war. Die Zerstörung ihres Autos, das Eintreffen des gemeinen Briefs, der Einbruch in ihre Wohnung, der Angriff auf ihre Intimsphäre - das alles hatte nach ihrer ersten Begegnung stattgefunden. Adam Stohn wußte, wo sie arbeitete. Er wußte, wo sie wohnte. Er hatte sogar eine Nacht auf ihrem Sofa verbracht.
    Gut, er hätte die Gelegenheit gehabt, all diese Dinge zu tun, dachte Jess und verlor sich einen Moment im ruhigen, tiefen Blick seiner braunen Augen. Aber welchen Grund sollte er

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