Schau Dich Nicht Um
entdeckte einen kleinen Knoten in ihrer Brust und hatte ziemlich große Angst. Sie rief den Arzt an, und der gab ihr für denselben Nachmittag einen Termin. Aber zu diesem Termin ist sie nie erschienen. Kein Mensch hat sie je wiedergesehen.«
»Dann ist es möglich, daß sie noch lebt?«
»Nein, das ist nicht möglich«, fuhr Jess ihn an. »Das ist absolut nicht möglich.«
Er wollte sie in die Arme nehmen, aber sie wich vor ihm zurück.
»Sie hätte uns niemals verlassen, nur weil sie Angst hatte«, fuhr Jess fort. Ihr schien, als kämen die Worte tief aus ihrem Inneren. »Ich meine, trotz aller Angst, und ich weiß, daß sie Angst hatte, wäre sie nicht einfach von uns fortgegangen. Sie war nicht so eine Frau, die Mann und Kinder im Stich lassen würde, weil sie der Realität nicht ins Auge schauen kann. So etwas hätte sie nie getan. Ganz gleich, wie sehr sie sich fürchtete, ganz gleich, wie zornig sie war.«
»Zornig?«
»Ich meinte nicht zornig.«
»Aber du hast es gesagt.«
»Ich habe es nicht gemeint.«
»Worüber war sie zornig, Jess?«
»Sie war nicht zornig.«
»Sie war zornig auf dich, nicht wahr? Sie war böse auf dich?«
Jess wandte sich ab und blickte zum Fenster. Das tränenüberströmte Gesicht ihrer Mutter starrte sie durch die alten Spitzenvorhänge an. Das habe ich nicht nötig, Jess. Das muß ich mir von dir nicht gefallen lassen .
»Ich kam aus meinem Zimmer nach unten und sah, daß sie sich zum Ausgehen angezogen hatte«, begann Jess. »Ich habe gefragt, wohin sie wollte, und zuerst hat sie es mir einfach nicht gesagt. Aber nach einer Weile kam heraus, daß sie einen Knoten in ihrer Brust entdeckt hatte und am Nachmittag zu ihrem Arzt wollte.« Jess versuchte zu lachen, aber das Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. »Das war typisch für meine Mutter - sich schon am Morgen feinzumachen, wenn sie erst am späten Nachmittag irgendwo einen Termin hatte.«
»So ähnlich, als wenn man die Kleider, die man am nächsten Tag anziehen will, schon am Abend vorher herauslegt.«
Jess ignorierte die Anspielung. »Sie hat mich gefragt, ob ich mit ihr zum Arzt gehen würde. Ich habe es ihr natürlich versprochen. Aber dann sind wir irgendwie in Streit geraten. So eine typische Mutter-Tochter-Geschichte. Sie hat mir vorgehalten, ich sei störrisch und eigensinnig. Ich hab ihr vorgeworfen, sie sei eine Glucke. Ich hab gesagt, sie solle sich in mein Leben nicht einmischen. Daraufhin sagte sie, sie könnte auf meine Begleitung zum Arzt verzichten. Na schön, wie du willst, hab ich gesagt und bin aus dem Haus gerannt. Als ich wieder nach Hause kam, war sie schon weg.«
»Und du gibst dir die Schuld an dem, was geschehen ist.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Jess stand auf und ging zum Vogelkäfig. »Hallo, Fred, wie geht’s dir?«
»Fred geht es glänzend«, sagte Adam, der hinter sie getreten war. »Bei seiner Eigentümerin bin ich mir da nicht so sicher. Das ist ja
eine Riesenladung Schuldgefühle, die du seit Jahren mit dir herumschleppst.«
»Hey, was ist aus unserer Vereinbarung geworden?« fragte Jess. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und vermied es, ihn anzusehen; richtete statt dessen ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Kanarienvogel. »Keine Geheimnisse, keine Lügen, erinnerst du dich?« Sie drückte das Gesicht an den Käfig und zwitscherte nicht sonderlich talentiert.
»Läßt du ihn manchmal raus?« fragte Adam.
»Kanarienvögel soll man nicht aus dem Käfig herauslassen«, antwortete Jess laut, weil sie hoffte, mit dem Klang ihrer Stimme das Zittern ihres Körpers beruhigen zu können. »Sie sind anders als Wellensittiche. Wellensittiche sind domestizierte Vögel. Sie sind zahm. Kanarienvögel nicht. Man darf sie nicht aus dem Käfig herauslassen.«
»Du brauchst also niemals Angst zu haben, daß er dir wegfliegt«, sagte Adam leise.
Diesmal war die Anspielung zu deutlich, als daß sie sie hätte ignorieren können. Ärgerlich drehte sie sich herum. »Der Vogel ist ein Haustier, keine Metapher.«
»Jess -«
»Kannst du mir sagen, wann du die Psychologie aufgegeben hast, um Schuhe zu verkaufen?« fragte sie erbittert. »Wer, zum Teufel, bist du überhaupt, Adam Stohn?«
Sie standen einander gegenüber, ohne etwas zu sagen, Jess zitternd, Adam völlig reglos.
»Soll ich gehen?« fragte er schließlich.
Nein, dachte sie. »Ja«, sagte sie.
Er ging langsam zur Tür.
»Adam«, rief sie, und er blieb stehen. »Ich glaube, es ist wahrscheinlich am
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