Schau Dich Nicht Um
hinaussehen konnte? War sie so daran gewöhnt, mit Gaunern und Ganoven umzugehen, daß sie mit anständigen Menschen, die sie liebten, deren einziges Verbrechen es war, ihr Leben so leben zu wollen, wie sie es für richtig hielten, nicht mehr zurechtkam? War es denn nicht genau das - ihr Leben zu leben, wie sie es für richtig hielt -, was sie selbst immer gewollt, nein, gefordert hatte?
War sie nicht eben darüber mit ihrer Mutter am Tag ihres Verschwindens in Streit geraten?
Jess warf heftig den Kopf zurück. Sie spürte, wie die Muskeln in ihren Schultern sich verkrampften. Warum drehte sich für sie immer noch alles um ihre Mutter? Warum war sie noch immer die Gefangene von Geschehnissen, die sich vor acht langen Jahren ereignet hatten? Wieso führte immer alles zu dem Tag zurück, an dem ihre Mutter verschwunden war?
Verdammter Adam Stohn, dachte sie, während die Verkrampfungen in den Schultern auf die anderen Muskeln ihres Rückens übergriffen. Er war schuld an diesem Unbehagen. Er hatte sie dazu gebracht, sich zu öffnen, über ihre Mutter zu sprechen. Er hatte all
die Ängste, die Traurigkeit und die Schuldgefühle freigesetzt, die sie so lange unterdrückt hatte.
Es war nicht Adams Schuld, das wußte sie. Er hatte ja nicht ahnen können, auf was für ein emotionales Minenfeld er sich begab, als er ihr seine simplen Fragen stellte. Er hatte nicht ahnen können, was für Wunden er bloßlegte. Man kann nicht einfach ein Heftpflaster auf einen Krebs kleben, dachte sie, und erwarten, daß er heilt. Zog man das Pflaster nach Jahren wohlwollender Vernachlässigung ab, so stieß man auf einen vollentwickelten bösartigen Tumor, der außer Kontrolle geraten war.
Kein Wunder, daß er kein Verlangen gehabt hatte zu bleiben; daß er es so eilig gehabt hatte zu gehen. »Soll ich gehen?« hatte er gefragt, und sie hatte gesagt: »Ich glaube, es ist wahrscheinlich am besten, wenn du nicht wiederkommst.« Und das war es dann auch schon, dachte sie jetzt und erinnerte sich, daß sie ihm einmal gesagt hatte, daß für eine Anwältin ihre Glaubwürdigkeit das A und O sei.
Nun, er hatte sie nur beim Wort genommen.
»Verdammter Adam Stohn«, flüsterte sie.
»Hast du was gesagt?« fragte Barbara und sah von ihrem Schreibtisch zu ihr hinüber.
Jess schüttelte den Kopf. Ein schreckliches Gefühl der Beklemmung legte sich auf ihre Brust, trieb sein Spiel mit ihrem Atem, rüttelte an ihrem Gleichgewicht. Ihr war so flau, so schwindlig, daß sie meinte, sie würde jeden Moment aus ihrem Sessel fallen. O Gott nein, dachte sie und verkrampfte sich automatisch, während die Welt um sie herum in Nebeln der Angst verschwamm. Wehr dich nicht dagegen, sagte sie sich hastig. Geh mit. Geh mit. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Na und, dann fällst du eben aus dem Sessel. Dann landest du eben auf dem Hintern. Dann übergibst du dich eben. Na und?
Langsam stieß sie die Luft aus ihrer Lunge aus und ließ sich in das Zentrum des giftigen Nebels tragen. Beinahe augenblicklich begann
er sich rund um sie herum aufzulösen. Das Schwindelgefühl ließ nach und das Atmen wurde ihr wieder leichter, ihre Schultermuskeln lockerten sich, die Spannung löste sich. Vertraute Geräusche drangen an ihr Ohr - das Summen des Faxgeräts, das Klappern der Computertastatur, das Läuten des Telefons.
Sie sah, wie Neil Strayhorn an ihren Schreibtisch kam und den Hörer ihres Telefons abhob. Wie lange hatte es schon geläutet?
»Neil Strayhorn«, sagte er, den Blick auf Jess gerichtet. »Sie sind fertig? Jetzt?«
Jess atmete einmal tief durch und stand auf. Sie brauchte nicht zu fragen. Die Geschworenen waren zurück.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, sind Sie zu einem Urteil gekommen?«
Jess hielt vor Erregung den Atem an. Sie liebte und sie haßte diesen Augenblick. Liebte ihn wegen seiner Dramatik und seiner Spannung, wegen des Wissens, daß Sieg oder Niederlage nur ein Wort entfernt waren. Haßte ihn aus denselben Gründen. Haßte ihn, weil sie es haßte zu verlieren. Haßte ihn, weil es letztendlich immer nur um Sieg oder Niederlage ging. Die Wahrheit des einen Anwalts gegen die des anderen, die Gerechtigkeit in die Statistenrolle verbannt. Die ganze Wahrheit gab es nicht.
Der Obmann räusperte sich und warf einen Blick auf das Blatt Papier in seiner Hand, bevor er zu sprechen anfing, als fürchtete er, er könnte vergessen haben, wie die Entscheidung der Geschworenen lautete, als wollte er sich noch einmal vergewissern, was
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