Schau Dich Nicht Um
war schon verschwunden. Langsam und drohend ging die Gestalt in Schwarz auf sie zu.
Der Tod, begriff Jess und stürzte auf die offene Straße hinaus. »Hilfe!« schrie sie. »Helft mir doch!« Der Schatten des Todes jedoch kam mühelos immer näher, während sie die Treppe zum Haus ihrer Eltern hinaufstolperte. Sie riß die Fliegengittertür auf, schlug sie hinter sich zu und versuchte mit fliegenden Fingern, den Riegel vorzuschieben, als der Tod die Hand nach der Tür ausstreckte und sein Gesicht deutlich sichtbar wurde.
Rick Ferguson.
»Nein!« schrie Jess in höchstem Entsetzen und fuhr mit hämmerndem Herzen in die Höhe. Ihr Bettzeug war schweißnaß.
Kein Wunder, daß er ihr so vertraut erschienen war, sagte sie sich, schluchzend und keuchend mit hochgezogenen Knien in ihrem Bett kauernd. Eine Ausgeburt ihrer finstersten Phantasien war im wahrsten Sinne des Wortes aus ihren Träumen in ihr Leben eingedrungen. Die Alpträume, die sie früher so häufig gequält hatten, waren wieder da, und die schwarze Gestalt hatte einen Namen - Rick Ferguson.
Jess warf die feuchte Bettdecke zurück und stand auf. Aber kaum hatte sie die Füße auf den Boden gesetzt, da spürte sie, wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie fiel neben dem Bett zusammen, keuchend, voll Angst, sich übergeben zu müssen.
»O Gott, o Gott«, stöhnte sie und sprach die Panik an, als wäre sie körperlich im Zimmer anwesend. »Bitte, hör doch auf. Bitte geh weg.«
Sie streckte sich zu der weißen Porzellanlampe hinauf, die auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand, und knipste das Licht an. Das Zimmer zeigte sich ihrem Blick: weiche Rosetöne mit zarten Nuancen von Grau und Blau kombiniert, ein Doppelbett, ein heller Teppich, ein weißer Korbstuhl, über dem ihre Sachen für den nächsten Tag hingen, eine Kommode, ein kleiner Spiegel, ein Poster von Niki de Saint Phalle und eines von Henri Matisse. Sie versuchte in die harmlose Alltäglichkeit ihres Lebens zurückzufinden, indem sie sich auf die Maserung der hellen Holzdielen konzentrierte, die langen pfirsichfarbenen Vorhänge, die hohe weiße Zimmerdecke. Das war das Schöne an diesen alten Häusern, versuchte sie sich abzulenken, daß man Luft zum Atmen hatte. Hohe Räume dieser Art gab es in modernen Glaspalästen nicht.
Die Strategie half nicht. Ihr Herz raste weiter wie verrückt, und die Brust war ihr so eng, daß sie kaum Luft bekam. Sie zwang sich aufzustehen, torkelte auf unsicheren Beinen, die dauernd unter ihr wegzusacken drohten, in das winzige, funktionelle Badezimmer. Sie drehte den Hahn auf und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht und auf die Schultern, ließ das Wasser unter ihrem Nachthemd auf Busen und Bauch rinnen.
Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und starrte in die Toilettenschüssel. Nichts war ihr unangenehmer, als sich übergeben zu müssen. Seit ihr als kleines Mädchen nach der Geburtstagsfeier bei Allison Nichol nach zu viel Lakritze und Bananensplits übel geworden war, graute ihr davor, sich übergeben zu müssen. Jahrelang
hatte sie danach ihre Mutter Abend für Abend vor dem Zubettgehen gefragt: »Muß ich auch nicht spucken?« Und jeden Abend hatte ihre Mutter geduldig versichert, daß sie ganz bestimmt nicht würde spucken müssen. »Versprichst du mir, daß nichts passiert?« hatte Jess beharrt. »Ich verspreche es dir«, hatte ihre Mutter jedesmal geantwortet.
Man konnte es unter diesen Umständen schon ironisch nennen, daß schließlich nicht dem Kind, sondern der Mutter etwas passiert war.
Und nun war der Alptraum, der sie nach dem Verschwinden ihrer Mutter gepeinigt hatte, wiedergekehrt, begleitet wie damals von der Kurzatmigkeit, dem Zittern der Hände, der lähmenden, namenlosen Angst, die jede Faser ihres Körpers ergriff. Wie gemein, dachte Jess, mit zusammengebissenen Zähnen über die Toilette gebeugt, und drückte eine Hand auf ihre Brust, als könnte sie so den Schmerz abfangen, der ihr durchs Herz stach wie die stumpfe Klinge eines langen Messers.
Ich könnte Don anrufen, dachte sie, die Wange auf den kühlen Rand der Toilette gedrückt. Er weiß immer, was zu tun ist. So oft hatte er sie nachts, wenn sie zitternd aus dem Schlaf gefahren war, tröstend an sich gedrückt, ihr mit sanften Händen das feuchte Haar aus der Stirn gestrichen und ihr, genau wie früher ihre Mutter, versichert, daß ihr nichts passieren würde. Ja, sie konnte Don anrufen. Er würde ihr helfen. Er würde genau wissen, was zu tun war.
Jess stemmte sich
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