Schau Dich Nicht Um
sie zu akzeptieren; sie brauchte Zeit, um ihren Zorn und ihre Frustration zu verarbeiten. Und ihre Niederlage. Sie brauchte Zeit, um den Ballast abzuwerfen und sich innerlich freizumachen für die Arbeit an ihrem nächsten Fall.
Sie fand sich auf der California Avenue wieder, ohne sich klar erinnern zu können, daß sie das Gerichtsgebäude verlassen hatte. Sie war verblüfft, es war ganz untypisch für sie, nicht genau zu wissen, was sie tat. Sie fühlte die Kälte, die durch ihre dünne Tweedjacke drang. Die Meteorologen sagten immer noch möglichen Schneefall voraus. Eine Möglichkeit voraussagen, dachte sie und fand das ein interessantes Konzept. Sie zog ihre Jacke fester um sich und begann zu gehen. »Ich könnte ebensogut nackt sein«, sagte sie laut, wohl wissend, daß niemand darauf achten würde. Nur eines von vielen Opfern unseres Rechtssystems, dachte sie und stieg, einem plötzlichen Impuls folgend, in einen Bus der Linie 60, der in die Innenstadt fuhr.
»Was tu ich da?« murmelte sie vor sich hin. Sie setzte sich auf einen Platz in der Nähe des Fahrers. Impulshandlungen waren gar nicht ihre Art. Impulshandlungen waren Sache von Leuten, die ihr Leben nicht in der Hand hatten, dachte sie. Das eintönige Dröhnen des Busses fing sich vibrierend in ihrem Körper, und sie schloß die Augen.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange der Bus schon unterwegs war, ehe sie die Augen wieder öffnete, oder wann sie zum ersten Mal bemerkte, daß die Geschworene mit dem kastanienbraunen Haar und den weichen grauen Augen hinten im Bus saß. Noch weniger hätte sie sagen können, in welchem Augenblick sie beschlossen hatte, ihr zu folgen. Bewußt geplant hatte sie das gewiß nicht. Und doch stieg sie etwa eine halbe Stunde später mit der Frau aus dem Bus und folgte ihr in die Michigan Avenue, ging mit einem Abstand von vielleicht fünf bis sechs Metern hinter ihr her.
Mehrere Straßen weiter blieb die Frau vor einem Schmuckgeschäft stehen, um sich das Schaufenster anzusehen, und Jess tat es ihr nach. Doch sie sah über die wertvollen Steine und goldenen Armbänder hinweg und fand im Glas den verwundert fragenden Blick ihres fröstelnden Abbilds, das ergründen zu wollen schien, wer sie war. An Schmuck hatte ihr nie etwas gelegen. Der einzige Schmuck, den sie überhaupt getragen hatte, war der einfache goldene Trauring. Don hatte aufgehört, ihr Schmuckstücke zu kaufen, als er feststellte, daß sie unweigerlich ganz hinten in ihrer Kommodenschublade landeten und dort blieben. Es sei nun einmal nicht ihr Stil, hatte sie erklärt. Mit Schmuck fühle sie sich immer wie ein kleines Mädchen, das in Mutters Sachen feine Dame spiele.
Bei dem Gedanken an ihre Mutter blickte sie auf und bemerkte, daß die Frau, die ihr heute in der Geschworenenbank gegenübergesessen hatte, weitergegangen war. Wie hatte sie sich auch nur einen Moment lang einbilden können, daß diese Frau Ähnlichkeit mit ihrer Mutter habe? Ihre Mutter war größer und schlanker gewesen,
ganz zu schweigen von dem Unterschied in Haar- und Augenfarbe. Und niemals, dachte Jess, hätte ihre Mutter pinkfarbenen Lippenstift benutzt, niemals hätte sie das Rouge so dick aufgetragen. Diese Frau war im Gegensatz zu ihrer Mutter ganz offensichtlich wenig selbstsicher und eher scheu, und das dicke Make-up wohl eine Maske, die die Spuren der Zeit verdecken sollte. Nein, es bestand nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen.
Wieder blieb die Frau vor einem Laden stehen, einem Schaufenster voll häßlicher Ledertaschen und Koffer, wie Jess sah. Würde sie in das Geschäft hineingehen? Sich ein kleines Geschenk machen? Zur Belohnung für gute Arbeit? Nun ja, warum nicht? dachte Jess und wandte sich ab, als die Frau die Tür aufstieß und zielstrebig zur Mitte des Ladens ging.
Jess fragte sich, ob sie ihr folgen sollte. Ich könnte eine neue Aktentasche gebrauchen, dachte sie. Ihre war sehr alt; Don hatte sie ihr zum bestandenen Examen gekauft und sich bei diesem Geschenk, anders als bei dem Schmuck, nie darüber beklagen müssen, daß sie es nicht verwendete. Das früher einmal glänzende schwarze Leder war mit der Zeit stumpf und fleckig geworden, die Nähte waren ausgefranst, der Reißverschluß klemmte dauernd, weil irgendwelche lose hängenden Fäden dazwischenkamen. Vielleicht war die Zeit gekommen, sich von der Tasche zu trennen und eine neue zu kaufen. Sich ein für allemal aus den Bindungen an die Vergangenheit zu lösen.
Die Frau kam mit
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