Schau Dich Nicht Um
ihre Beratungen wieder aufgenommen. Überraschenderweise waren sie schon eine Stunde später bereit, ihr Urteil zu verkünden.
Ja, sagte der Obmann, sie seien zu einem Spruch gekommen, und Richter Harris forderte den Angeklagten auf, sich zu erheben. Jess lauschte mit angehaltenem Atem, als der Obmann in feierlichem Ton sagte: »Wir, die Geschworenen, halten den Angeklagten, Douglas Phillips, für nicht schuldig.«
Nicht schuldig.
Jess hatte ein Gefühl, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.
Nicht schuldig.
»Mein Gott, sie haben mir nicht geglaubt«, flüsterte Erica Barnowski neben ihr.
Nicht schuldig.
Doug Phillips umarmte seine Anwältin. Rosemary Michaud warf Jess einen Blick diskreter Siegesfreude zu.
Nicht schuldig.
»Verdammt noch mal«, sagte Neil Strayhorn. »Ich hab wirklich gedacht, wir hätten eine Chance.«
Nicht schuldig.
»Soll das Gerechtigkeit sein?« fragte Erica Barnowski scharf. Ihre Stimme gewann durch die Entrüstung an Kraft. »Der Mann hat zugegeben, daß er mir ein Messer an den Hals gehalten hat, und da sind die Geschworenen der Ansicht, daß er nicht schuldig ist?«
Jess konnte nur nicken. Sie war schon zu lange eines der vielen Rädchen in dieser Maschinerie, um sich noch irgendwelchen Illusionen hinsichtlich der sogenannten Gerechtigkeit hinzugeben. Schuld war ein relativer Begriff, ein Gebilde aus Schatten und Gespenstern. Wie die Schönheit war sie im Auge des Betrachters. Wie die Wahrheit unterlag sie der Interpretation.
»Und was soll ich jetzt tun?« fragte Erica Barnowski. »Ich hab
meine Stellung verloren, meinen Freund und meine Selbstachtung. Was soll ich jetzt tun?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern floh aus dem Gerichtssaal, ehe Jess Zeit hatte, sich eine passende Erwiderung zu überlegen.
Was hätte sie da sagen können? Machen Sie sich keine Sorgen, morgen ist auch noch ein Tag? Schlafen Sie drüber, morgen sieht alles ganz anders aus? Vor der Morgendämmerung ist es immer am finstersten? Oder vielleicht, er wird seine Strafe schon bekommen? Wenn es so sein soll, soll es eben so sein? Man konnte natürlich auch immer sagen, Pech gehabt, nächstes Mal läuft’s bestimmt besser, wer sich selbst hilft, dem hilft Gott. Und zum weiteren Trost, vertrauen Sie auf die Zeit, Sie haben richtig gehandelt, die Zeit heilt alle Wunden, das Leben geht weiter.
Genau, dachte sie, das ist es: Die Weisheit der Jahrhunderte in vier kleine Worte gefaßt - das Leben geht weiter.
Jess sammelte ihre Unterlagen ein und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der Angeklagte jedem der Geschworenen dankbar die Hand schüttelte. Die Geschworenen vermieden es tunlichst, sie anzusehen, als sie wenige Minuten später den Gerichtssaal verließen. Die Geschworene mit dem intelligenten Gesicht und den weichen grauen Augen war die einzige, die sich von Jess verabschiedete. Jess nickte ihr zu. Es hätte sie interessiert, welche Rolle diese Frau bei der Urteilsfindung der Geschworenen gespielt hatte. War sie von Anfang an von Douglas Phillips’ Unschuld überzeugt gewesen, oder war sie daran schuld gewesen, daß sich die Beratungen so in die Länge gezogen hatten, hatte sie vielleicht auf einem Schuldspruch beharrt und erst nachgegeben, als ihre Hartnäckigkeit ein Patt zu verursachen drohte, einen Prozeß ohne Ergebnis? Oder hatte sie vielleicht dagesessen und ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch getrommelt, während sie darauf gewartet hatte, daß die anderen endlich zur Vernunft kommen und sich ihrer Auffassung anschließen würden?
Nicht schuldig.
»Möchtest du darüber reden?« fragte Neil.
Jess schüttelte den Kopf, nicht sicher, ob sie eher zornig oder traurig war. Später war noch Zeit genug, die Vorgänge zu analysieren und darüber zu debattieren, ob sie die Sache anders hätten anpacken können. Aber im Augenblick konnte man gar nichts tun. Es war vorbei. Sie konnte den Ausgang des Prozesses so wenig ändern, wie sie die Tatsachen ändern konnte, und Tatsache war, wie Greg Oliver am Tag zuvor klipp und klar gesagt hatte, daß kein Geschworenengericht im ganzen Land einen Mann wegen Vergewaltigung verurteilen würde, wenn das Opfer kein Höschen angehabt hatte.
Jess wußte, daß sie jetzt nicht gleich in ihr Büro zurückkehren konnte. Ganz abgesehen davon, daß es sie ärgerte, Greg Olivers überlegene Menschenkenntnis anerkennen zu müssen, brauchte sie jetzt Zeit für sich, um sich mit der Entscheidung der Geschworenen auseinanderzusetzen und
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