Schau Dich Nicht Um
lassen.
»Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß hier die Gerechtigkeit zu Wort kommt«, schloß Richter Harris. »Indem Sie gerecht und unparteiisch urteilen und sich nicht von persönlichen Sympathien
für das Opfer oder den Angeklagten beeinflussen lassen, sondern den Fall einzig nach den Tatsachen bewerten, werden Sie dieses dunkle, alte Gebäude in einen helleuchtenden Tempel der Gerechtigkeit verwandeln.«
Viele Male hatte Jess in den vergangenen Jahren diese Worte aus Richter Harris’ Mund gehört, und sie ergriffen sie stets von neuem. Sie beobachtete ihre Wirkung auf die Geschworenen. Die Männer und Frauen marschierten aus dem Gerichtssaal, als folgten sie einem hellen Stern.
Erica Barnowski schwieg, während der Saal sich langsam leerte. Erst nachdem der Angeklagte und sein Anwalt hinausgegangen waren, stand sie auf und nickte Jess zu. Neil Strayhorn erklärte ihr, daß sie Bescheid bekommen würde, sobald die Geschworenen sich auf ein Urteil geeinigt hätten; das könnte Stunden dauern oder auch Tage, sie müsse sich auf jeden Fall zur Verfügung halten.
»Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas höre«, sagte Jess abschiednehmend und sah der jungen Frau nach, die mit raschem Schritt durch den Korridor zu den Aufzügen ging. Unwillkürlich glitt ihr Blick zu Erica Barnowskis vollen Hüften. »Es zeichnet sich gar nichts ab unter diesem Rock«, hörte sie Greg Oliver sagen. Mit einer heftigen Bewegung warf sie ihren Kopf zurück und schüttelte ihn, als wollte sie ihn von solch unerfreulichen Gedanken befreien.
»Du hast ausgezeichnet gesprochen«, sagte sie zu Neil Strayhorn. »Du hast dich klar und prägnant ausgedrückt; du hast den Geschworenen sämtliche notwendigen Fakten ins Beratungszimmer mitgegeben. Geh jetzt und iß eine schöne warme Suppe gegen deine Erkältung«, fuhr sie fort, ehe Neil etwas erwidern konnte. »Ich glaub, ich gehe ein bißchen an die frische Luft. Das kann ich jetzt gebrauchen.«
Sie nahm trotz der sieben Stockwerke die Treppe und nicht den Aufzug. Die Bewegung konnte ihr nur guttun. Vielleicht würde sie einen langen Spaziergang machen, sich die Winterstiefel kaufen, die
sie brauchte. Vielleicht würde sie sich sogar ein Paar neue Pumps leisten.
Vielleicht würde sie sich aber auch nur beim Stand an der Ecke einen Hot Dog holen und dann wieder in ihr Büro hinaufgehen und mit der Arbeit am nächsten Fall beginnen, während sie auf die Entscheidung der Geschworenen wartete.
Die Oktoberluft schlug ihr unangenehm kalt ins Gesicht, als sie ins Freie trat. Sie zog die Schultern bis zu den Ohren hoch und eilte mit gesenktem Kopf die Treppe zur Straße hinunter, warf einen verstohlenen Blick zur Straßenecke und stellte aufatmend fest, daß Rick Ferguson nirgends zu sehen war.
»Einen Hot Dog mit allem«, rief sie dem Verkäufer am Stand erleichtert zu und sah zu, wie er eine riesige koschere Bockwurst in ein Sesambrötchen schob und Ladungen von Ketchup, Senf und relish darübergab. »Wunderbar, vielen Dank.« Sie drückte ihm das Geld abgezählt in die Hand und biß mit Appetit in ihren Hot Dog.
»Wie oft muß ich dir noch sagen, daß diese Dinger das reine Gift sind?« Die männliche Stimme, sonor und gutgelaunt, drang irgendwo von rechts zu ihr. Jess drehte sich um. »Sie bestehen doch nur aus Fett. Total ungesund!«
Jess riß ungläubig die Augen auf. »Du lieber Gott, eben hab ich an dich gedacht.«
»Nur das Beste, hoffentlich«, sagte Don Shaw.
Jess starrte ihren geschiedenen Mann an, als sei sie nicht sicher, ob er aus Fleisch und Blut sei oder eine Ausgeburt ihrer Phantasie. Was für eine unglaublich starke Ausstrahlung er hat, dachte sie, während das Straßenbild um ihn herum in grauer Konturlosigkeit zu verschwimmen schien. Obwohl er nur mittelgroß war, schien alles an ihm ein paar Nummern zu groß zu sein: seine Hände, seine Brust, seine Stimme, seine Augen, deren Wimpern den Neid aller Frauen erregten.
Was hat er hier zu tun? fragte sie sich. Obwohl sie sich beruflich in
den gleichen Kreisen bewegten, war es bisher nicht ein einziges Mal vorgekommen, daß sich ihre Wege zufällig gekreuzt hatten. Sie hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesprochen. Und jetzt brauchte sie nur an ihn zu denken, und schon war er hier.
»Du weißt doch, ich kann es einfach nicht sehen, wenn du dieses ungesunde Zeug ißt«, sagte er, nahm ihr das Brötchen mit der Wurst einfach aus der Hand und warf es in den nächsten Abfalleimer.
»Was soll das?«
»Komm, ich
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