Schau Dich Nicht Um
er hätte Sie erwischt.«
»Er hat Sie nur um Haaresbreite verfehlt!«
»Mir ist nichts passiert«, sagte jemand, und Jess erkannte ihre eigene Stimme. »Ich hab anscheinend nicht aufgepaßt.« Sie fragte sich flüchtig, wieso sie die Schuld für etwas auf sich nahm, das ganz eindeutig nicht ihre Schuld war. Sie wäre beinahe von einem Verrückten in einem weißen Chrysler überfahren worden, der mit viel zu hoher Geschwindigkeit vorbeigerast war und nicht einmal angehalten hatte; sie hatte sich Hände und Knie aufgeschlagen, als sie aufs Pflaster gestürzt war; ihre Tweedjacke war voller Schmutz; ihre Strumpfhose an den Knien kaputt. Und ihr war es peinlich, Aufsehen erregt zu haben. »Ich war anscheinend mit meinen Gedanken woanders«, sagte sie entschuldigend und stand unsicher auf. »Aber mir ist nichts passiert. Es geht schon wieder.«
»Es geht schon wieder«, wiederholte sie, während sie zur gegenüberliegenden Ecke hinkte, einem vorüberfahrenden Taxi winkte und in den Wagen kroch. »Es geht schon wieder.«
4
G enau drei Minuten vor sechs bog Jess in ihrem roten Mustang in die Auffahrt vor dem großen, weißen Haus ihrer Schwester in der Sheraton Road in Evanston ein. »Es wird schon alles gutgehen«, versicherte sie sich selbst, während sie den Motor ausschaltete und vom Sitz neben sich den Wein und die Geschenke nahm. »Du brauchst nur ruhig und gelassen zu bleiben und dich von Barry nicht in irgendwelche albernen Diskussionen hineinziehen zu lassen.« Sie rutschte aus dem Wagen und ging den Fußweg hinauf zur Haustür. »Immer mit der Ruhe, es wird schon alles gutgehen.«
Die Tür wurde geöffnet, noch ehe sie läuten konnte.
»Ah, Jess«, sagte Barry, und seine Stimme fegte die baumbestandene Straße hinunter wie ein Windstoß. Welkes Laub wirbelte zu ihren Füßen. »Pünktlich wie immer.«
»Wie geht es dir, Barry?« Jess trat in das große Foyer mit dem cremefarbenen Marmorboden.
»Könnte nicht besser sein«, antwortete Barry prompt. Er sagte immer, »könnte nicht besser sein«. »Und wie schaut’s bei dir aus?«
»Mir geht es gut.« Sie holte tief Atem, hielt ihm die Flasche Wein hin. »Ein chilenischer Wein. Der Mann im Spirituosengeschäft sagte, er wäre sehr zu empfehlen.«
Barry musterte das Etikett aufmerksam, unverkennbar skeptisch. »Vielen Dank. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn wir ihn für ein andermal aufheben. Ich habe schon ein paar Flaschen teuren französischen kalt gestellt. Komm, gib mir deinen Mantel.«
Er stellte die Flasche auf einen kleinen Tisch an der Wand und fing an, ungeschickt an ihrem Ärmel zu ziehen.
»Laß nur, Barry. Ich schaff das schon allein.«
»Na gut, aber dann laß mich ihn wenigstens für dich aufhängen.«
Jess wollte keinesfalls ein Tauziehen mit Barry und reichte ihm den Mantel. »Ist Maureen oben?«
»Sie bringt gerade die Zwillinge zu Bett.«
Er hängte ihren Mantel in den Schrank und führte sie zum Wohnzimmer, in dem Weiß und Rosenholztöne vorherrschten und einige kräftige schwarze Blöcke besondere Akzente setzten: ein schwarzer Konzertflügel, der den vorderen Teil des großen Raums dominierte, obwohl niemand im Haus Klavier spielte; ein schwarzer Marmorkamin, in dem bereits ein Feuer brannte.
»Ich geh rasch nach oben und sag den Kindern guten Tag. Ich habe ihnen etwas mitgebracht.« Jess wies auf die Einkaufstüte in ihrer Hand.
»Sie werden sowieso in ein paar Stunden wieder wach. Da kannst du es ihnen dann geben.«
»Jess, bist du das?« rief Maureen von oben.
»Ich komm rauf«, antwortete Jess und wandte sich schon zur Treppe.
»Untersteh dich!« rief Maureen zurück. »Gerade hab ich sie alle ins Bett gepackt. Bleib unten und unterhalte dich mit Barry. Ich komme in zwei Minuten.«
»Sie kommt in zwei Minuten«, wiederholte Barry wie ein Papagei. »Also, was meinst du? Schaffst du’s, dich zwei Minuten mit deinem Schwager zu unterhalten?«
Jess lächelte und setzte sich in einen der beiden weißen Sessel gegenüber von Barry, der vorgebeugt auf der Kante des rosenholzfarbenen Sofas hockte, als sei er ganz Aufmerksamkeit. Eher als wollte er sich auf mich stürzen, dachte Jess, die bis heute nicht verstand, wieso sie und Barry es nicht geschafft hatten, Freunde zu
werden. Was an diesem Mann geht mir nur so gegen den Strich? fragte sie sich; sie war sich bewußt, daß er mit seinen klaren blauen Augen jede einzelne ihrer Gesten registrierte. Er ist nicht häßlich. Er ist nicht dumm. Er ist nicht unfreundlich,
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