Schau Dich Nicht Um
mal, was Tante Jess mir mitgebracht hat«, sagte Tyler, der auf dem Boden hockte, und zeigte stolz sein neues Flugzeug.
»Das ist ja toll! Du hast dich hoffentlich richtig bedankt.«
»Deine Schwester hält nichts davon, danke zu sagen«, sagte Barry und ging hinüber zum Barschrank, wo er sich einen Scotch mit Wasser einschenkte. »Möchte sonst jemand etwas?«
»Ich nicht«, sagte Maureen. »Du hast einen wunderschönen Pullover an, Jess. Du solltest öfter Blau tragen. Die Farbe steht dir glänzend.«
»Er ist grün«, verbesserte Barry und sah mit hochgezogener Augenbraue Jess an. »Das sagtest du doch, nicht wahr, Jess?«
»Aber nein, er ist eindeutig blau«, erklärte Maureen kategorisch. »Gar keine Frage.«
»Schlafen die Zwillinge schon?« fragte Jess.
»Jedenfalls für den Augenblick. Aber das hält nie lange an.«
»Ich habe ihnen auch eine Kleinigkeit mitgebracht.«
»Aber Jess, du sollst nicht jedesmal, wenn du zu uns kommst, etwas kaufen.«
»Aber ich will es. Wozu sind Tanten sonst da?«
»Na schön, vielen Dank.« Maureen nahm die Einkaufstüte, die Jess ihr hinhielt, und sah hinein.
»Es sind nur zwei Lätzchen. Ich fand sie so niedlich.«
»Wundervoll.« Maureen hielt die buntbestickten Lätzchen hoch. »Ach, schau sie dir doch mal an, sind sie nicht süß, Barry?«
Jess hörte Barrys Erwiderung nicht. War das wirklich ihre Schwester? Sie bemühte sich, Maureen nicht anzustarren. Hatten sie wirklich dieselbe Mutter gehabt? Konnte diese Frau, die an einer der besten Universitäten des Landes ein hervorragendes Examen abgelegt hatte, von zwei Fünf-Dollar-Lätzchen aus dem Kaufhaus wirklich so entzückt sein? Und so auf die Billigung ihres Mannes angewiesen, daß sie ihm die Dinger zur Begutachtung vorlegen mußte? Von summa cum laude zum Hausmütterchen?
»Und wie ist es heute bei Gericht ausgegangen?« fragte Maureen, als spürte sie Jess’ Unbehagen. »Ist das Urteil gesprochen?«
»Ja, aber das falsche.«
»Na ja, das hast du doch fast erwartet, nicht wahr?« Maureen nahm Jess bei der Hand und zog sie mit sich zum Sofa, ließ die Hand ihrer Schwester auch nicht los, nachdem sie beide sich gesetzt hatten.
»Aber ich hatte mir etwas anderes erhofft.«
»Ja, das ist sicher hart.«
»Genau wie deine Schwester«, warf Barry ein. Er führte sein Glas zum Mund und setzte es erst wieder ab, als es fast leer war. »Das stimmt doch, nicht wahr, Jess?«
»Und - gibt’s daran etwas auszusetzen?« Jess hörte den Ton der Herausforderung, der sich in ihre Stimme geschlichen hatte, obwohl sie es nicht gewollt hatte.
»Nein, solange es sich auf den Gerichtssaal beschränkt, sicher nicht.«
Nicht anbeißen, warnte sie sich. Laß dich nicht von ihm ködern. »Ah, ich verstehe«, entgegnete sie scharf trotz ihrer guten Vorsätze. »Für andere darf ich kämpfen, aber nicht für mich selbst.«
»Wer sagt denn, daß du immer kämpfen mußt?«
»Ich finde Jess gar nicht hart«, bemerkte Maureen mit einem fragenden Unterton in der Stimme.
»Kannst du mir mal verraten, Jess«, sagte Barry, »wie es kommt,
daß Frauen sofort den ganzen Humor verlieren, wenn sie ein bißchen Macht bekommen?«
»Und wie kommt es, daß Männer einer Frau sofort mangelnden Humor vorwerfen, wenn sie nicht über ihre Witze lacht?« schoß Jess zurück.
»Zwischen stark sein und hart sein ist ein großer Unterschied«, erklärte Barry zum Ausgangspunkt zurückkehrend und unterstrich seine Feststellung mit emphatischem Kopfnicken, als handelte es sich um eine jener grundlegenden Wahrheiten, die sich angeblich von selbst verstehen. »Ein Mann kann es sich leisten, beides zu sein; eine Frau nicht.«
»Jess«, bemerkte Maureen behutsam, »du weißt doch, daß Barry dich nur neckt.«
Jess sprang auf. »Scheiße, von wegen necken!«
Tyler drehte sich mit aufgerissenen Augen nach seiner Tante um.
»Achte bitte in diesem Haus auf deine Ausdrucksweise«, sagte Barry spitz.
Jess empfand seine Zurechtweisung wie eine Ohrfeige. Sie hatte Angst, sie würde gleich zu weinen anfangen. »Ach, Kraftausdrücke sind bei euch auch nicht erlaubt«, entgegnete sie, nur um etwas zu sagen und nicht in Tränen auszubrechen. »Wir trinken keine Cola, und wir gebrauchen keine Kraftausdrücke.«
Barry sah seine Frau an und warf die Hände in die Luft, als wollte er sagen, ich kapituliere.
»Jess, bitte«, sagte Maureen flehentlich. Sie faßte die Hand ihrer Schwester fester und versuchte, sie aufs Sofa zurückzuziehen.
»Ich möchte
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