Schau Dich Nicht Um
gewinnst.«
»Richtig, wenn ich gewinne«, stimmte sie bekümmert zu.
»Eins muß ich dir lassen, Jess«, sagte er und sprang auf. »Ich hätte nie gedacht, daß du so lange durchhalten würdest. Was möchtest du trinken?« Er verband die beiden Sätze miteinander, als ob einer sich ganz natürlich aus dem anderen ergäbe.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, möchtest du ein Glas Wein oder etwas Härteres?«
»Wieso hättest du nie gedacht, daß ich durchhalten würde?« fragte Jess, ehrlich verwundert über seine Bemerkung.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht. Ich dachte vermutlich, du würdest dich bald für etwas Lukrativeres entscheiden. Ich meine, mit deinen Noten hättest du doch nach Belieben wählen können.«
»Das habe ich getan.«
Jess sah die Verwirrung in Barrys Blick. Ihre beruflichen Entscheidungen gingen offensichtlich über sein Begriffsvermögen hinaus.
»Also, was möchtest du trinken?« fragte er wieder.
»Am liebsten eine Cola.«
Er reagierte nicht gleich. Dann sagte er: »Cola und Limonade gibt es bei uns nicht mehr. Wenn wir dieses süße Zeug nicht im Haus haben, kommt Tyler auch nicht in Versuchung. Außerdem bist du die einzige, die so was trinkt.«
Jetzt war Jess diejenige, die ein verdutztes Gesicht machte.
Auf der Treppe und dann im Flur waren schnelle Trippelschritte zu hören. Jess sah fliegendes dunkles Haar, große blaue Augen und aufgeregt gestikulierende kleine Hände. Im nächsten Augenblick warf sich ihr dreijähriger Neffe in ihre Arme. »Hast du mir was mitgebracht?« fragte er statt einer Begrüßung.
»Ich bring dir doch immer was mit.« Jess griff in die Einkaufstüte, die neben ihr stand, und bemerkte gleichzeitig unangenehm berührt, daß ihr Neffe Hemd und Krawatte trug wie sein Vater.
»Augenblick.« Barrys Stimme war streng. »Solange wir nicht richtig guten Tag gesagt haben, gibt’s keine Geschenke. Hallo, Tante Jess«, sagte er seinem Sohn vor.
Tyler sagte nichts. Ohne Barry weiter zu beachten, nahm Jess ein Modellflugzeug aus der Tüte und drückte es ihrem Neffen in die empfangsbereiten Hände.
»Super!« Tyler ließ sich von ihrem Schoß zu Boden fallen, um das
kleine Flugzeug von allen Seiten zu mustern und es schließlich durch die Luft sausen zu lassen.
»Wie sagt man?« versuchte es Barry noch einmal in mühsam beherrschtem Ton. »Willst du dich nicht bei Tante Jess bedanken?«
»Ach, laß doch, Barry«, mischte Jess sich ein. »Er kann sich später bei mir bedanken.«
Barry wurde so rot im Gesicht, als sei sein Hemdkragen plötzlich zwei Nummern geschrumpft. »Mir gefällt das nicht, wie du versuchst, meine Autorität zu untergraben«, erklärte er wütend.
»Wie ich was versuche?« fragte Jess, die ihren Ohren nicht trauen wollte.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Und sieh mich nicht so unschuldig an. Du weißt ganz genau, wovon ich rede.«
Tyler rannte mit seinem neuen Flugzeug in der Hand lachend zwischen seinem Vater und seiner Tante hin und her, ohne etwas von der Spannung im Raum zu bemerken.
Weder Barry noch Jess rührten sich von der Stelle. Beide standen wie angewurzelt, Barry am Sofa, Jess vor ihrem Sessel, als warteten sie darauf, daß etwas geschehen würde, plötzlich jemand erscheinen und die Szene auflösen würde.
»Müßte es jetzt nicht eigentlich draußen läuten?« fragte Jess und war froh, als Barrys verkniffener Mund sich entspannte und beinahe ein Lächeln zeigte. Wenn es schon zu einem Streit kommen sollte, und es kam immer zu einem Streit, wenn sie und Barry zusammen waren, sollte es nicht ihre Schuld sein. Das hatte sie sich auf der Fahrt von ihrer Wohnung hierher fest vorgenommen.
»Ach, wie schön«, sagte Maureen plötzlich von der Tür her. »Ihr zwei vertragt euch.«
Barry lief augenblicklich zu seiner Frau und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Eine meiner leichtesten Übungen«, versicherte er ihr.
Maureen lächelte strahlend. Obwohl sie sicherlich todmüde war, wirkte sie frisch und lebhaft. Sie hatte schon fast wieder ihre normale
Figur, wie Jess bemerkte. Es hätte sie interessiert, ob Barry sie überredet hatte, wieder mit ihrer Gymnastik anzufangen. Als hätte sie mit dem großen Haushalt und drei kleinen Kindern nicht genug zu tun.
»Du siehst unheimlich gut aus«, sagte Jess aufrichtig.
»Und du siehst müde aus«, erwiderte Maureen und nahm Jess in den Arm. »Bekommst du auch genug Schlaf?«
Jess zuckte die Achseln, dachte flüchtig an den letzten Alptraum.
»Schau
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