Schau Dich Nicht Um
Bündel an ihre Brust. Sie fühlte die Weichheit des kleinen Köpfchens unter ihren Lippen und atmete den süßen Duft ein. Ach, hätte sie doch umkehren, noch einmal von vorn anfangen können. So vieles würde sie heute anders machen.
»Komm zu Mami, Chloe.« Maureen nahm den anderen Zwilling aus dem Bettchen. »Es gibt doch auch noch andere Möglichkeiten
als die Konfrontation«, sagte sie zu Jess, während sie das Kind in ihren Armen wiegte.
»Davon haben wir beim Jurastudium nichts gehört.«
Maureen lächelte, und Jess wußte, daß alles vergeben und vergessen war. Maureen konnte niemals lange zornig sein. So war sie schon als Kind gewesen, immer auf Harmonie bedacht, ganz im Gegensatz zu Jess, die unglaublich nachtragend sein konnte, eine Eigenschaft, die ihre Mutter fast verrückt gemacht hatte.
»Geht’s dir auch manchmal so, daß du glaubst...«, begann Jess und zögerte dann, unsicher, ob sie fortfahren sollte. Sie hatte nie zuvor mit Maureen über dieses Thema gesprochen.
»Daß ich was glaube?«
Jess begann das Kind in ihren Armen hin und her zu wiegen. »Glaubst du manchmal, du hättest Mama gesehen?« fragte sie leise.
Ein Ausdruck der Bestürzung flog über Maureens Gesicht. »Was?«
»Bildest du dir manchmal ein, du hättest - Mutter gesehen?« wiederholte Jess. Sie bemühte sich, ruhig und förmlich zu sprechen, und wich dem Blick ihrer Schwester aus. »Ich meine, in einer Menschenmenge zum Beispiel. Oder auf der anderen Straßenseite.« Sie verstummte. Klang das auch so lächerlich, wie sie sich fühlte?
»Unsere Mutter ist tot«, sagte Maureen mit Entschiedenheit.
»Ich meinte ja nur...«
»Warum tust du dir das an?«
»Ich tue mir doch gar nichts an.«
»Sieh mich an, Jess«, befahl Maureen, und Jess drehte sich widerstrebend nach ihrer Schwester herum. Einen Moment standen sich die beiden Schwestern schweigend gegenüber, jede einen Säugling in den Armen, und sahen einander an. »Unsere Mutter ist tot«, wiederholte Maureen dann, und Jess merkte, wie sie am ganzen Körper steif und gefühllos wurde.
Sie hörten die Türklingel.
»Das ist Dad«, sagte Jess, die nur dem forschenden Blick ihrer Schwester entrinnen wollte.
Maureens Blick ließ sie nicht los. »Jess, ich finde, du solltest mal zu Stephanie Banack gehen.«
Jess hörte, wie unten die Haustür geöffnet wurde, wie ihr Vater und Barry im Vorsaal miteinander sprachen. »Stephanie Banack? Was soll ich denn bei ihr? Sie ist doch deine Freundin.«
»Sie ist außerdem Psychotherapeutin.«
»Ich brauche keine Psychotherapeutin.«
»Da bin ich anderer Meinung. Ich schreib dir ihre Telefonnummer auf, ehe du gehst. Ich finde, du solltest sie anrufen.«
Jess wollte widersprechen, unterließ es aber, als sie ihren Vater die Treppe heraufkommen hörte.
»Na, sieh sich das einer an!« rief ihr Vater vergnügt, als er an die Tür kam. »Alle meine süßen Mädchen in einem Raum versammelt.« Er nahm Jess in die Arme und küßte sie auf beide Wangen. »Wie geht’s dir, Schatz?«
»Mir geht’s gut, Dad«, antwortete Jess und hatte zum ersten Mal an diesem Tag das Gefühl, daß es vielleicht wirklich so war.
»Und wie geht es meinem anderen Schatz?« fragte er Maureen und drückte sie an sich. »Und meinen kleinen Schätzen?« fragte er weiter und umschloß sie alle mit seinen beiden Armen. Er nahm Chloe aus den Armen ihrer Mutter und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Ach, du kleine Süße. Du kleine Süße«, rief er im Singsang. »Ich liebe dich. Ja, wirklich, ich liebe dich von ganzem Herzen.« Er hielt inne und sah lächelnd von einer Tochter zur anderen. »Das hab ich gestern abend zu einem größeren Mädchen gesagt«, verkündete er, trat einen Schritt zurück und wartete auf ihre Reaktion.
»Was hast du gesagt?« fragte Maureen.
Jess sagte nichts. Maureen hatte ihr die Worte aus dem Mund genommen.
5
I n der ersten Stunde nach dem Besuch bei ihrer Schwester fuhr Jess nur ziellos durch die Straßen von Evanston und versuchte angestrengt nicht an das zu denken, was ihr Vater beim Abendessen erzählt hatte. Aber natürlich konnte sie an nichts anderes denken.
»Das habe ich gestern abend zu einem größeren Mädchen gesagt«, hatte er verkündet, und seine Stimme hatte absolut sicher und ruhig geklungen. Als wäre es nichts Besonderes, sich zu verlieben, als gäbe er jeden Tag eine solche Erklärung ab.
»Erzähl uns was von ihr«, drängte Maureen bei Tisch, während sie die Mockturtlesuppe auf die Teller
Weitere Kostenlose Bücher