Schau Dich Nicht Um
nur sicher sein, daß ich sämtliche Regeln dieses Hauses verstanden habe.« Jess funkelte ihren Schwager wütend an, der plötzlich Vernunft und Gelassenheit in Person war. Er hatte es wieder geschafft, sie auf die Palme zu treiben, gestand sie sich ärgerlich und beschämt ein. »Ich weiß nicht, wie du es machst«, murmelte sie niedergeschlagen. »Du mußt schon ein besonderes Talent haben.«
»Weshalb rastest du denn jetzt schon wieder aus?« fragte Barry, einen Ausdruck echter Verwirrung im Blick.
» Ausrasten? « rief Jess empört und gab alle Bemühungen sich zu beherrschen auf. »Ausrasten nennst du das?«
»Tyler«, sagte Maureen und stand auf, um ihren Sohn sachte aus dem Zimmer zu schieben, »nimm doch dein neues Flugzeug mit nach oben, hm?«
»Ich will aber hier bleiben«, protestierte der Junge.
»Tyler, spiel oben in deinem Zimmer, bis wir dich zum Essen rufen«, befahl ihm sein Vater.
Der Junge gehorchte augenblicklich.
»Die Stimme seines Herrn«, bemerkte Jess ironisch, als das Kind die Treppe hinaufrannte.
»Jess, bitte!« sagte Maureen.
»Ich hab nicht angefangen.« Jess hörte das verletzte Kind in ihrer Stimme, war zornig und verlegen, daß sie es auch hören konnten.
»Es spielt keine Rolle, wer angefangen hat«, entgegnete Maureen, als hätte sie es mit zwei Kindern zu tun, jedoch ohne einen von ihnen anzusehen. »Wichtig ist, daß Schluß ist, bevor es ausufert.«
»Okay, es ist Schluß.« Barrys Stimme füllte den großen Raum.
Jess sagte nichts.
»Jess?«
Jess nickte nur, unfähig etwas zu sagen vor Zorn und Schuldgefühlen. Schuldgefühle wegen ihres Zorns, Zorn über ihre Schuldgefühle.
»Also, was hat die Frau Staatsanwältin als nächstes auf der Tagesordnung?« Maureen sprach mit so penetrant künstlicher Heiterkeit, als hätte sie eine auf den Tod kranke Patientin vor sich. Ihre normalerweise weiche und melodiöse Stimme war schrill und mehrere Töne höher als sonst. Sie kehrte zum Sofa zurück und klopfte fast verzweifelt neben sich auf den Sitz. Weder Jess noch Barry rührten sich.
»Mehrere Drogenprozesse, die wir hoffentlich durchbringen werden«, antwortete ihr Jess. »Und übernächste Woche hab ich den nächsten Vergewaltigungsprozeß. Ach, und am Montag treff ich mich mit dem Anwalt dieses Mannes, der seine Frau mit der Armbrust erschossen hat, weil sie sich von ihm trennen wollte.« Jess rieb sich die Nase, sie war betroffen über die Sachlichkeit ihres Tons.
»Mit einer Armbrust, um Gottes willen!« Maureen schauderte. »Das ist ja barbarisch!«
»Du mußt es doch vor ein paar Monaten in der Zeitung gelesen haben. Es war überall in den Schlagzeilen.«
»Ach, darum hab ich es nicht mitbekommen«, sagte Maureen. »Ich lese in letzter Zeit in der Zeitung nur noch die Kochrezepte.«
Jess gab sich alle Mühe, ihre Bestürzung zu verbergen, und wußte, daß es ihr nicht gelang.
»Alles übrige ist einfach deprimierend«, behauptete Maureen, ihr Ton so sehr Rechtfertigung wie Erklärung. »Und mir fehlt die Zeit.« Ihre Stimme versickerte in einem Flüstern.
»Was hast du denn heute abend Schönes für uns gekocht?« Barry setzte sich zu seiner Frau auf die Couch und nahm ihre Hände.
Maureen atmete einmal tief durch und sah gerade vor sich hin, als läse sie von einer unsichtbaren Tafel ab. »Zuerst gibt es eine Mockturtlesuppe, danach Hühnchen in Honigglasur mit Sesamkörnern, Süßkartoffeln und gegrilltes Gemüse, hinterher grünen Salat mit Nüssen und Gorgonzola und zum Abschluß eine Birnenmousse mit Himbeersoße.«
»Das klingt ja fabelhaft.« Barry drückte Maureen die Hand. »Das klingt, als hättest du die ganze Woche in der Küche gestanden.«
»Es klingt aufwendiger, als es in Wirklichkeit ist«, sagte Maureen bescheiden.
»Mir ist schleierhaft, wie du das machst«, sagte Jess und stolperte beinahe über das »wie«, weil sie eigentlich »warum« sagen wollte.
»Ich finde es sehr entspannend.«
»Du solltest es auch mal versuchen, Jess«, sagte Barry.
»Und du solltest endlich die Klappe halten, Barry«, gab Jess zurück.
Wieder standen sich Jess und Barry wie die Streithähne gegenüber.
»Das war’s«, rief er. »Ich hab genug.«
»Ja du, du hast mehr als genug«, sagte Jess. »Und schon viel zu lange. Alles auf Kosten meiner Schwester.«
»Jess, du irrst dich.«
»Ich irre mich nicht, Maureen.« Jess begann im Zimmer hin und her zu laufen. »Was ist nur aus dir geworden? Du warst mal diese tolle, unglaublich gescheite Frau, die
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