Schau Dich Nicht Um
Molkereiprodukten und anderen verderblichen Waren ein. Verfallsdatum? Mit dem Revolver in der Hand kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, schlug mit dem kurzen Lauf leicht auf den Lichtschalter und tauchte das Zimmer in Finsternis. Der Kanarienvogel hörte abrupt zu singen auf.
Mit der Waffe in der Hand näherte sich Jess dem Fenster. »Schieß
dich nur nicht selber in den Fuß«, warnte sie sich und kam sich ausgesprochen albern vor. Aber die Angst war stärker. Mit zitternden Händen schob sie den dünnen Spitzenvorhang zur Seite.
Es war nichts zu sehen. Kein weißer Chrysler. Überhaupt kein weißes Auto. Nur der weiße Schnee, der Rasen und Pflaster sprenkelte. War überhaupt ein weißes Auto hier gewesen?
»Dein Frauchen ist eindeutig kurz vor dem Überschnappen«, erklärte Jess ihrem Kanarienvogel. Sie machte das Licht nicht wieder an. Sie breitete ein dunkelgrünes Tuch über den Vogelkäfig, schaltete das Radio aus und brachte die Waffe in ihr Schlafzimmer zurück, in dem jetzt überall Schuhe herumlagen. Warum sammle ich nicht lieber Briefmarken? dachte sie beim Anblick der Bescherung. Briefmarken waren leichter unterzubringen und nicht dem Diktat der Mode unterworfen. Bestimmt hätte kein Mensch Imelda Marcos kritisiert, wenn sie dreitausend Paar Briefmarken gesammelt hätte.
Sie kniete auf dem Teppich nieder und machte sich daran aufzuräumen. Niemals hätte sie schlafen können, wenn es in ihrem Schlafzimmer aussah wie auf einem Schlachtfeld. Falls sie überhaupt schlafen konnte.
Seufzend starrte sie auf die Waffe in ihrer Hand. Wäre sie tatsächlich fähig gewesen zu schießen? Sie zuckte die Achseln, froh, nicht auf die Probe gestellt worden zu sein, und legte den Revolver wieder in den Karton unter die alten Pumps.
Dann aber überlegte sie es sich anders und nahm die Waffe wieder heraus. Es war vielleicht gescheiter, sie irgendwo zu verstecken, wo man leichter an sie herankam. Auch wenn sie sie wahrscheinlich niemals benützen würde. Nur damit sie sich besser fühlte.
Sie zog die oberste Schublade ihres Nachttischs auf und schob den Revolver in die hintere Ecke hinter ein altes Fotoalbum. »Nur für heute nacht«, sagte sie laut und stellte sich vor, wie sie versuchte, einer Meute blutrünstiger Bullterrier zu entkommen.
Nur für heute Nacht.
6
V on den anderen war noch niemand da, als Jess im Scoozi in der Huron Street in River West eintraf. Anders als die kleinen dunklen Bars in der California Street, in denen sich Jess und ihre Kollegen normalerweise zu treffen pflegten, war das Scoozi ein riesiges altes Lagerhaus, das man in ein Restaurant mit Bar umgewandelt hatte. Von der hohen Decke hing ein gigantischer Art Deco Leuchter in die Mitte des Raumes herab, der in einer Art toskanischem Landhausstil eingerichtet war. Hinten stand ein großer Terracottatopf voll leuchtender künstlicher Blumen, vorn war die stets gut besuchte Bar. Nach Jess’ Schätzung hatten an den Tischen im großen Speisesaal des Restaurants leicht dreihundert Leute Platz. Aus unsichtbaren Lautsprechern strömte etwas aufdringlich italienische Musik. Insgesamt bot das Restaurant genau die richtige Kulisse, um Leo Pameters einundvierzigsten Geburtstag zu feiern.
Jess hatte Leo Pameter seit dem Jahr, als er von der Staatsanwaltschaft weggegangen war, um in eine private Anwaltskanzlei einzusteigen, nicht mehr gesehen. Ihr war klar, daß sie zu dieser Geburtstagsfeier nur eingeladen war, weil die gesamte zehnte und elfte Etage aufgefordert worden war. Warum sie angenommen hatte, war ihr weniger klar.
Um wieder einmal etwas vorzuhaben vermutlich. Sie nickte lächelnd, als der Ober ihr sagte, daß von ihrer Gesellschaft noch niemand hier sei, und fragte, ob sie an der Bar warten wolle. An der Bar war bereits Hochbetrieb, obwohl es gerade erst sechs Uhr war. Jess sah auf ihre Uhr, aber im Grunde nur, weil sie nichts Besseres zu tun hatte, und fragte sich zum zweiten Mal, warum sie hierhergekommen war.
Ich bin gekommen, sagte sie sich, weil ich Leo Pameter immer gern gehabt habe. Sie hatte es bedauert, als er gegangen war. Im
Gegensatz zu vielen anderen ihrer Kollegen, unter ihnen Greg Oliver, war Leo Pameter ruhig und höflich, ein Mensch, der auf seine Umgebung ausgesprochen beruhigend wirkte, vielleicht weil er über seinem Ehrgeiz nie seine gute Erziehung vergaß. Alle mochten ihn, einer der Gründe, weshalb heute abend alle kommen würden. Jess hätte gern gewußt, wie viele Leute kommen würden, wenn es ihren Geburtstag
Weitere Kostenlose Bücher