Schau Dich Nicht Um
Jess in ihrer Handtasche nach ihrer Geldbörse kramte. »Bist du allein hier?«
Jess zuckte die Achseln. Die Frage erforderte keine Antwort. Warum hatte er sie überhaupt gestellt?
»Ich habe Leo nicht mehr gesehen, seit er bei uns weggegangen ist«, sagte sie, weil sie glaubte, etwas sagen zu müssen.
»Er ist sehr erfolgreich«, sagte Don. »Er ist zu Remington, Faskin gegangen, wie du weißt.« Remington, Faskin, Carter und Bloom war eine kleine, aber sehr wohlangesehene Kanzlei. »Er scheint sich dort sehr wohl zu fühlen.«
»Was machen Sie denn?« fragte Jess Trish McMillan und bemühte sich zu übersehen, daß ihr Arm noch immer Dons Taille umfangen hielt.
»Ich bin Lehrerin.«
Jess nickte. Na, das war wenigstens nicht allzu beeindruckend.
»Ja, aber keine Lehrerin im landläufigen Sinn«, fügte Don stolz hinzu. »Trish unterrichtet drüben im Kinderkrankenhaus. In der Gehirnchirurgie und der Dialyseabteilung.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Jess. »Was unterrichten Sie denn da?«
»Alles«, antwortete Trish und lachte.
Alles, dachte Jess. Natürlich.
»Ich unterrichte Kinder aller Altersstufen, die an der künstlichen Niere hängen und nicht zur Schule gehen können, oder Kinder, die Gehirnoperationen hinter sich haben. Diejenigen, die für lange Zeit im Krankenhaus sind.«
»Das klingt ziemlich bedrückend.«
»Ja, es kann bedrückend sein. Aber ich bemühe mich, meine gute Laune nicht zu verlieren.« Sie lachte wieder. Ihre Augen blitzten. Ihre Wangen bekamen Grübchen. Jess mußte sich anstrengen, sie nicht zu hassen. Mutter Teresa mit kurzem blonden Haar und einem verführerischen Lachen.
Jess griff wieder nach ihrem Glas, stellte überrascht fest, daß es leer war, winkte dem Barkeeper, um sich noch einen Wein zu bestellen, bestand darauf, ihn selbst zu bezahlen.
»Ich höre, du hattest heute nachmittag eine ziemlich hitzige Auseinandersetzung«, sagte Don.
»Wo hast du das gehört?«
»So was spricht sich herum.«
»Dieser Hal Bristol hat wirklich Nerven! Zwei Wochen vor dem Prozeß versucht er mich zu fahrlässiger Tötung rumzukriegen.« Jess hörte den Zorn in ihrer eigenen Stimme. Sie wandte sich Trish
so plötzlich zu, daß die Frau zusammenfuhr. »Da schießt so ein Kerl seiner Frau mit der Armbrust mitten ins Herz, und sein Anwalt will mir weismachen, es sei ein Unfall gewesen.«
Trish McMillan sagte nichts, starrte sie nur mit großen dunklen Augen an.
»Bristol will auf Unfall hinaus?« Sogar Don schien überrascht zu sein.
»Ja, er behauptet, sein Mandant habe nicht die Absicht gehabt, sie zu erschießen, er habe ihr nur einen kleinen Schrecken einjagen wollen. Das ist doch schließlich ganz verständlich, oder? Ich meine, sie hat den armen Kerl ja über alles vernünftige Maß hinaus herausgefordert. Richtig? Was blieb ihm da anderes übrig, als sich eine Armbrust zu kaufen und sie mitten auf einer Straßenkreuzung abzuknallen?«
»Du weißt, daß Bristol wahrscheinlich nur versuchte, sich auf halbem Weg mit dir zu treffen.«
»Es gibt keinen halben Weg.«
Don lächelte bekümmert. »Nein, bei dir nicht.« Er drückte Trish McMillan fester an sich.
Jess leerte ihr zweites Glas Wein. »Ich bin froh, daß du hier bist«, verkündete sie in möglichst geschäftsmäßigem Ton. »Ich wollte dich etwas fragen.«
»Schieß los.«
Jess sah sich wieder am Fenster ihrer Wohnung, wie sie mit der Waffe in der Hand hinter den dünnen Vorhängen verborgen zur Orchard Street hinunterblickte. Sie wünschte, Don hätte ein anderes Wort gewählt.
»Was für einen Wagen fährt Rick Ferguson?«
Don hielt eine Hand hinter sein Ohr. »Bitte? Ich habe dich nicht verstanden.«
Jess sprach lauter. »Fährt Rick Ferguson einen weißen Chrysler?«
Don bemühte sich nicht, seine Verwunderung zu verbergen. »Wieso?«
»Ja oder nein?«
»Ich glaube, ja«, antwortete Don. »Aber noch mal, warum?«
Jess merkte, wie das leere Glas in ihrer Hand zu zittern begann. Sie führte es an ihre Lippen und hielt es mit den Zähnen fest. Es wurde plötzlich laut, Stimmengewirr und Gelächter schallten durch den Raum, Begrüßungsworte und Glückwünsche, allgemeines Schulterklopfen und Händeschütteln, und im nächsten Augenblick fand Jess sich mit einem frischen Drink in der Hand mitten in einer lebhaften Gesellschaft wieder.
»Ich habe gehört, du hast es dem alten Bristol kräftig gegeben«, brüllte Greg Oliver durch das Getöse.
Jess sagte nichts, suchte in der Menge nach Don, hörte
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