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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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schrie ins Leere.
    Das war schon das zweite Mal an diesem Tag, daß sie beinahe von einem weißen Auto umgebracht worden wäre, erst von einem Chrysler, dann - sie war nicht sicher, was es diesmal für ein Auto gewesen war. Vielleicht auch ein Chrysler, dachte sie, während sie versuchte, sich den Wagen ins Gedächtnis zu rufen. Aber er war zu rasch an ihr vorbei gewesen, außerdem regnete es, und es war dunkel. Und einer ihrer Scheibenwischer tat es nicht mehr. Was spielte es auch für eine Rolle? Es war wahrscheinlich ihre Schuld. Sie konzentrierte sich nicht auf das, was sie tat. Sie war zu beschäftigt mit anderen Dingen. So beschäftigt damit, nicht nachzudenken. Über ihre Schwester. Ihren Vater. Ihre Angstattacken.
    Vielleicht sollte sie Maureens Freundin Stephanie Banack wirklich einmal anrufen. Jess griff in die Tasche ihrer schwarzen Hose und tastete nach dem Zettel, auf dem ihre Schwester ihr Adresse und Telefonnummer der Therapeutin aufgeschrieben hatte. Sie erinnerte sich Stephanie Banacks als einer strebsamen, ernsthaften Person mit leicht nach vorn gekrümmten Schultern und einer Nase, die für ihr schmales Gesicht zu breit war. Stephanie und Maureen, ihre Schwester, waren seit der High School miteinander befreundet und hatten die Verbindung nie abreißen lassen. Jess hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, hatte vergessen, daß sie Psychotherapeutin geworden war, und beschloß jetzt, sie nicht aufzusuchen. Sie brauchte keine Therapeutin; sie brauchte einfach Schlaf.

    Jess’ Anspannung lockerte sich allmählich, sie fühlte sich wesentlich besser, als sie sich dem Lincoln Park näherte, fast normal, als sie nach rechts in die North Avenue einbog. Gleich zu Hause, dachte sie und sah, daß der Regen in Schnee überzugehen begann.
    Ihr Zuhause war die oberste Etage eines dreistöckigen alten Stadthauses in der Orchard Street. Man hatte begonnen, das alte Viertel zu sanieren, und die meisten der schönen alten Häuser waren im vergangenen Jahrzehnt umfassenden Renovierungsarbeiten unterzogen worden. Die Häuser bildeten eine bunte Mischung: groß und klein, Backstein und Holzschindeln, eine Vielfalt von Formen und Stilarten, Mietshäuser neben Einfamilienhäusern, wenige mit einem Vorgarten, noch weniger mit angebauten Garagen. Die meisten Anwohner parkten auf der Straße, ihre Parkgenehmigungen deutlich sichtbar auf den Armaturenbrettern ihrer Autos.
    Die Klinkerfassade des Hauses, in dem Jess wohnte, war im Sommer gereinigt worden, die hölzernen Fensterläden waren mit glänzendem schwarzen Lack frisch gestrichen worden. Jess gefiel das alte Haus jedesmal von neuem, und sie wußte, daß sie sich glücklich preisen konnte, diese Wohnung gefunden zu haben. Nur schade, dachte sie, daß es keinen Aufzug gab, obwohl ihr sonst die drei Treppen überhaupt nichts ausmachten. Heute abend jedoch fühlte sie sich so schlapp, als hätte sie eine lange Joggingrunde hinter sich.
    Dabei war sie seit ihrer Scheidung nicht mehr gelaufen. Sie und Don waren, als sie am Lake Shore Drive gewohnt hatten, regelmäßig das Stück Strand von der North Avenue bis zur Oak Street gelaufen, aber das Joggen war Dons Idee gewesen, und sie hatte es nach der Trennung ebenso aufgegeben wie die Gewohnheit, jeden Tag drei anständige Mahlzeiten zu essen und jede Nacht ihre acht Stunden zu schlafen. Es sah fast so aus, als hätte sie alles aufgegeben, was ihr guttat. Don eingeschlossen, dachte sie. Gerade heute abend wäre es schön gewesen, nicht in eine leere Wohnung heimzukehren.
    Jess parkte ihren alten roten Mustang hinter dem nagelneuen
grauen Lexus der Frau, die gegenüber wohnte, und rannte durch den leichten Nieselregen - oder war es schon Schnee? - zur Haustür. Sie sperrte auf, trat in das kleine Foyer, knipste das Licht an und sperrte die Tür hinter sich ab. Rechts von ihr war die geschlossene Tür der Parterrewohnung. Unmittelbar vor ihr befand sich die mit dunkelrotem Teppich bespannte Treppe nach oben. Die Hand leicht auf dem Geländer, begann sie den Weg nach oben. Aus der Wohnung in der ersten Etage drang Musik, als sie vorüberkam.
    Sie sah die anderen Mieter selten. Der eine war Architekt bei der Baubehörde, zweimal geschieden, der andere ein Systemanalytiker, schwul. Was genau ein Systemanalytiker war, würde sie niemals verstehen, ganz gleich, wie oft und wie eingehend man es ihr erklärte.
    Der Systemanalytiker war ein Jazzfan, und das Wimmern eines Saxophons begleitete sie zu ihrer Wohnungstür. Das Flurlicht

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