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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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Jess. Ihr war immer noch heiß, immer noch flau. Das Ablegen des Mantels hatte nichts bewirkt. Sie begann, an ihrem Pullover zu zerren. Blau, grün, türkis - welche Farbe auch immer das verdammte Ding hatte, es war zu warm. Sie erstickte ja fast darin. Wieso konnte sie nicht atmen?
    Verzweifelt sah sich Jess nach dem Ausgangsschild um. Ihr Kopf schwang von rechts nach links, während ihr Blick gleichzeitig in alle
Richtungen flog und ihr Magen rumorte. Die Schildkrötensuppe, dachte sie und riß am Rollkragen ihres Pullovers, sah sich plötzlich von einem Meer enthaupteter Schildkröten umgeben.
    Gleich würde ihr übel werden. Nein, nein, übergib dich jetzt bloß nicht. Reiß dich zusammen. Sie richtete den Blick wieder auf die Leinwand. Der junge Mann lag tot auf dem Boden, sein Gesicht von den Hunden zerfleischt, so daß er nicht mehr zu erkennen war. Kaum noch ein Mensch. Der Mob, der seine Wut gestillt hatte, ließ ihn auf der verlassenen Landstraße liegen.
    War ihrer Mutter ein ähnliches Schicksal widerfahren? Hatte sie mißhandelt und allein gelassen irgendwo auf einer einsamen Straße geendet?
    Oder saß sie vielleicht irgendwo in einem Kino wie diesem hier, sah sich irgendein ähnlich groteskes Rührstück an und fragte sich, ob sie je nach Hause zurückkehren könnte, ob ihre Töchter ihr jemals vergeben könnten, daß sie sie verlassen hatte.
    »Das habe ich nicht nötig, Jess«, hatte sie am Morgen ihres Verschwindens gerufen. » Das muß ich mir von dir nicht gefallen lassen! «
    Jess spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie schmeckte Schildkrötensuppe gemischt mit Hühnchen und Gorgonzola. Nein, bitte nicht, flehte sie lautlos, biß die Zähne zusammen und preßte die Lippen aufeinander.
    Atme tief durch, ermahnte sie sich, wie Don sie immer ermahnt hatte. Tief durchatmen, aus dem Zwerchfell. Ein. Aus. Ein. Aus.
    Es half nichts. Gar nichts half. Sie spürte, wie ihr auf der Stirn der Schweiß ausbrach und seitlich an ihrem Gesicht hinunterlief. Ihr war speiübel. Gleich würde sie sich übergeben, mitten in einem Film, mitten in einem randvollen Kino. Nein, unmöglich. Sie mußte hinaus. Sie mußte Luft haben.
    Sie sprang auf.
    »Hey! Hinsetzen!«

    »Was, zum Teufel, soll das nun wieder?«
    Jess packte ihren Mantel, drängte sich durch die Reihe zum Gang, ohne darauf zu achten, wem sie auf die Füße trat, wem sie ihre Schulter in den Rücken stieß.
    »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie immer wieder.
    »Pscht!«
    »Kommen Sie bloß nicht wieder zurück.«
    »Entschuldigen Sie«, wiederholte sie und stürzte ins Foyer hinaus, wo sie gierig die Luft einatmete. Das Mädchen an der Kasse musterte sie mißtrauisch, sagte aber nichts. Jess rannte die Straße hinunter zu ihrem Wagen. Es regnete immer noch, stärker jetzt als vorher.
    Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Wagenschlüssel, ließ ihn beinahe fallen, als sie versuchte, die Tür aufzusperren. Als sie endlich hinter das Steuer rutschte, war sie völlig durchnäßt, das Wasser lief ihr aus den Haaren in die Augen, ihr Pullover klebte klamm wie kalter Schweiß an ihrem Körper. Sie warf ihren Mantel auf den Rücksitz, dann legte sie sich quer über die Vordersitze, um sich von der Feuchtigkeit abkühlen zu lassen. Sie atmete tief die kalte Nachtluft ein, kostete sie wie einen edlen Wein. So blieb sie liegen, bis allmählich ihr Atem wieder ruhiger wurde.
    Die Panik ließ nach, hörte auf.
    Jess setzte sich auf und schaltete den Motor ein. Augenblicklich begannen die Scheibenwischer zu arbeiten. Oder, genauer gesagt, einer von ihnen begann zu arbeiten. Der andere schleppte sich stokkend über das Glas wie Kreide über eine Schiefertafel. Sie mußte das unbedingt schnellstens richten lassen. Sie konnte ja kaum genug sehen, um zu fahren.
    Sie lenkte den Wagen aus der Parklücke auf die Straße und fuhr in südlicher Richtung. Sie schaltete das Radio ein und hörte Mariah Carey zu, deren hohe dünne Stimme sich in dem kleinen Wagen fing und von Türen und Fenstern abprallte. Sie sang irgend etwas vom
Fühlen von Gefühlen, und Jess fragte sich geistesabwesend, was man sonst fühlen sollte.
    Sie sah den weißen Wagen erst, als er direkt auf sie zukam. Instinktiv riß sie ihr Auto zur Seite, die Reifen verloren die Haftung auf dem nassen Asphalt, und der Wagen drehte sich, ehe sie ihn zum Stehen bringen konnte.
    »Du Wahnsinniger!« schrie sie wütend. »Du hättest uns beide umbringen können.«
    Aber der weiße Wagen war verschwunden. Sie

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