Schau Dich Nicht Um
ihrem
schwarzen Rock. »Ich kriege Atemnot. Meine Glieder werden taub. Ich kann nicht mehr gehen. Meine Beine werden ganz kribblig und fangen an zu schlottern. Erst wird mir ganz leicht im Kopf, dann wird mir dumpf und schwer. Mein Herz fängt an zu rasen. Ich bekomme Beklemmungen, als drückte mir jemand die Brust zusammen. Ich bin wie gelähmt, kann mich überhaupt nicht mehr bewegen. Und mir wird speiübel.«
»Wie lange hast du diese Attacken schon?«
»Sie haben vor ein paar Wochen wieder angefangen.«
»Wieder?«
»Bitte?«
Stephanie Banack schlug die Beine übereinander. »Du hast gesagt, sie hätten vor ein paar Wochen wieder angefangen.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Das nennt man wohl eine Freudsche Fehlleistung.« Jess lachte bitter. War ihr Unterbewußtsein so begierig, all ihre Geheimnisse preiszugeben?
»Diese Anfälle sind also nichts Neues.« Die Bemerkung war mehr Feststellung der Tatsache als Frage.
»Nein.« Jess schwieg einen Moment, dann sprach sie weiter. »Nach dem Verschwinden meiner Mutter hatte ich sie mindestens ein Jahr lang fast jeden Tag, danach mehrere Jahre lang sehr oft.«
»Und dann haben sie aufgehört?«
»Ich habe seit ungefähr vier Jahren keine mehr gehabt.«
»Und jetzt haben sie wieder angefangen.«
Jess nickte. »Und sie kommen immer häufiger. Dauern immer länger. Werden immer schlimmer.«
»Und sie haben also vor ein paar Wochen wieder angefangen?«
»Ja.«
»Und was glaubst du, wodurch diese neuerliche Serie von Attakken ausgelöst worden ist?«
»Da bin ich mir nicht sicher.«
»Folgen diese Anfälle einem Muster?«
»Was meinst du mit einem Muster?«
Stephanie Banack überlegte einen Moment und rieb sich dabei die vollkommen geformte Nase. »Treten sie beispielsweise zu einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit auf? Treten sie während deiner Arbeit auf? Oder wenn du allein bist? An einem besonderen Ort vielleicht? Im Beisein bestimmter Menschen?«
Jess ließ sich die einzelnen Fragen nacheinander durch den Kopf gehen. Die Attacken traten zu jeder beliebigen Tages- oder Nachtzeit auf. Sie überfielen sie bei der Arbeit, zu Hause, wenn sie allein war, wenn sie durch eine geschäftige Straße ging, wenn sie im Kino war, wenn sie aus der Dusche kam. »Es gibt kein Muster«, sagte sie resigniert.
»Hattest du gestern abend, ehe du mich anriefst, so einen Anfall?«
Jess nickte.
»Was tatest du da gerade?«
Jess berichtete ihr, daß sie sich zum Ausgehen fertiggemacht hatte. »Ich hatte mir die Kleider, die ich anziehen wollte, schon zurechtgelegt«, sagte sie leise.
»Und du solltest die neue Frau im Leben deines Vaters kennenlernen?«
»Ja«, bestätigte Jess.
»Ich kann mir vorstellen, daß so eine Situation Ängste auslöst.«
»Na ja, ich kann nicht behaupten, daß ich mich auf den Abend gefreut habe. Was nur beweist, daß ich eine ziemlich üble Person bin.«
»Warum sagst du das?«
»Weil ich doch eigentlich wünschen müßte, daß mein Vater glücklich ist.«
»Und das wünschst du nicht?«
»Doch!« Jess spürte, wie ihr die Tränen in die Augen sprangen.
Sie unterdrückte sie krampfhaft. »Das ist es ja, was ich nicht verstehe! Ich möchte, daß er glücklich ist. Ich wünsche es ihm von Herzen. Und was ihn glücklich macht, sollte mich auch glücklich machen.«
»Wieso?«
»Wie bitte?«
»Seit wann muß etwas, das einen anderen Menschen glücklich macht, auch uns glücklich machen? Du verlangst sehr viel von dir, Jess. Vielleicht zuviel.«
»Maureen scheint mit der Situation nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben.«
»Maureen ist nicht du.«
»Aber es kann nicht allein mit meinem Vater zu tun haben«, wandte Jess ein. »Die Attacken hatten schon wieder angefangen, ehe ich von dieser neuen Frau hörte.«
»Wann genau haben sie denn angefangen?«
Jess dachte zurück zu der Nacht, in der sie schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd aufgewacht war. »Ich war im Bett und hab geschlafen. Ich hatte einen Alptraum. Davon bin ich aufgewacht.«
»Erinnerst du dich, was das für ein Traum war?«
»Es ging um meine Mutter«, antwortete Jess. »Ich hab dauernd versucht, sie zu erreichen, aber ich konnte nicht.«
»Hattest du an deine Mutter gedacht, bevor du einschliefst?«
»Ich weiß nicht mehr«, log Jess. Der ganze Tag war angefüllt gewesen mit Gedanken an ihre Mutter. Tatsächlich war der erste Anfall gar nicht auf ihren Alptraum gefolgt. Er war schon früher am Tag aufgetreten, im Gerichtssaal, während des
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